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Nanking Road

Nanking Road

Titel: Nanking Road
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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anerkennen. Die Zeit in Shanghai sei keine Haft gewesen, behauptete der Beauftragte, Hongkous Designated Area kein Ghetto, auch wenn wir es damals vielleicht so bezeichnet hätten. Opfer des Faschismus seien alle, die verfolgt und ermordet worden seien, auch die deutschen Soldaten, die für ein verbrecherisches Regime ihr Leben hätten lassen müssen. Aber so weit, dass der Begriff auch uns einschloss, die nur »privat überlebt« hätten, könne man ihn beim besten Willen nicht ausdehnen.
    Papa wurde gebraucht – um sich mit oft denselben Juristen auseinanderzusetzen, die bis vor Kurzem noch als Nazis Recht gesprochen hatten. Ein Jahr nach unserer Rückkehr wurde immer noch über unseren Status gestritten und viele Ältere, denen eine Rente versprochen worden war, waren wieder angewiesen auf Unterstützung jüdischer Hilfsorganisationen.
    Er begreife nicht, warum wir Juden überhaupt zurückgekehrt seien, sagte einer seiner Kollegen Papa ins Gesicht. Wir hätten doch wissen müssen, dass im zerstörten Berlin nichts mehr zu holen sei.
    Nicht einmal Erinnerungen, dachte ich bitter, nicht einmal alte Freundschaften.
    Es hatte einige Tage gedauert, bis ich mich aus der Wohnung in der Bergstraße, die Onkel Erik für uns gefunden hatte, in meinen alten Kiez zurückwagte. Ich hatte es ja schon geahnt: Unser Haus war ein Haufen Steine, Stockwerk für Stockwerk zusammengestürzt in mehreren Bombenjahren. Bis zum Sommer 44 hatten, wie ich im Kiosk an der Ecke erfuhr, Nachbarn noch im ersten Stock und im Keller gehaust, dann war es auch damit vorbei gewesen. Die alte Bergmann sei zu ihrer Tochter nach Mariendorf gezogen, von Christine und ihren Eltern wusste die Kioskbesitzerin nichts.
    Der benachbarte Friedhof war ein kaum minder trauriger Anblick. Bäume und Büsche, unter denen Bekka und ich als Kinder gespielt hatten, waren abgeholzt und in den Öfen der Nachbarschaft gelandet, Gräber, die Tante Ruth geharkt und bepflanzt hatte, waren verwahrlost und von umgestürzten Grabsteinen bedeckt. Keine Spur mehr von Damals, nicht einmal die alte S-Bahn-Brücke war noch da. Eine Behelfsbrücke führte auf die andere Seite hinüber, wo Einschusslöcher im Mauerwerk noch vorhandener Gebäude darauf hinwiesen, dass es hier zu Häuserkämpfen gekommen war. Sowohl Tante Ruths als auch Liebichs früheres Haus standen noch, aber keiner der Nachbarn gab sich zu erkennen, obwohl ich Bewegungen hinter mehreren Vorhängen bemerkte.
    Ausgelöscht. Von der ersten Hälfte meines Lebens war nichts mehr übrig. Lange stand ich am S-Bahn-Zaun und schaute zu Tante Ruths Wohnung hinauf. Ich hätte nicht herkommen sollen, dachte ich, nun werde ich auch meine Erinnerungen verlieren.
    Aber als ich mich endlich losriss, fiel mir doch noch etwas ein: die Kleingartenkolonie am Ende des Zauns. Ich fragte mich durch, auf den Trampelpfaden zwischen den Häuschen herrschte reger Betrieb. Viele Berliner hatten den Krieg in ihren Gartenlauben überlebt.
    »Die Sielmanns? Übernächster Gang. Was wolln’se denn von denen?«
    Mein Herz klopfte, als ich die Glockenschnur am Gartentor zog. Christine, die Treue, die Mutige, die mir als einziges der vielen nichtjüdischen Kinder, mit denen ich aufgewachsen war, zu Hilfe gekommen war. Wenn nur ein einziger Gerechter in dieser Stadt lebt … Papas Worte fielen mir wieder ein. Vielleicht hatte ich doch noch eine Freundin in Berlin.
    Christine kam auf mich zu. Sie war schmal und blass, ihre Kleidung aus Flicken zusammengesetzt. So hatten wir in Hongkou ausgesehen. Meine Finger umschlossen den Maschendraht.
    »Ich bin’s, Ziska. Wir sind wieder da!«
    Sie sagte nichts. Mein Herz sank. »Wir waren in Shanghai, wusstest du das? Meine Eltern und mein Onkel und ich.«
    »Schön«, sagte sie kühl und blieb einen Meter hinter dem Zaun stehen.
    »Und ihr? Deine Eltern …?«
    »Vati ist in Russland geblieben. Dafür kamen die Russen zu uns. Willst du hören, was sie mit uns gemacht haben? Auch mit Mutti und mir?«
    Ich suchte nach Worten, fand Zuflucht in einer neuen Frage: »Was ist mit den anderen? Richard zum Beispiel?«
    »Richard Graditz? Der ist mit Tausenden Hitlerjungen bei den Seelower Höhen gefallen. Die meisten Jungen aus unserer Klasse leben nicht mehr, falls es dich interessiert. Wir haben genug gebüßt, mehr kann keiner von uns verlangen.«
    Sprach’s, drehte sich um und floh zurück in ihre verwitterte kleine Laube.
    Meine Beine fühlten sich taub an, als ich die lange Silbersteinstraße zurückging. Ich
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