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Nächte im Zirkus

Nächte im Zirkus

Titel: Nächte im Zirkus
Autoren: Angela Carter
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rotes Band war an einem Zweig hängengeblieben. Die magische Hebamme sorgte dafür, daß die Spuren, die ihr Gang zu ihrer versteckten Patientin hinterließ, wieder verwischt wurden, doch sie war nicht sorglich genug gewesen. Waren nicht die Bären gekommen und hatten Mutter und Kind entführt? Ein paar Fuß hinter dem roten Band stießen sie auf ein kleines Blechglöckchen, das am Rand einer sich auflösenden Spur festgetretenen Schnees lag. Nun waren sie auf der Landstraße nach Irgendwo und schritten besserer Laune dahin, als sie sie seit Tagen gekannt hatten.
    Bald sahen sie vor sich Lichter, die schwachglänzend durch dicke Fensterscheiben aus Horn schienen, und die Dächer langer, niedriger Holzhäuser, und Rauch aus Kaminen, und ein reicher fremder Geruch von unbekannten Abendessensgerichten an unbekannten Herden stieg auf, und es war Abend.
    Fevvers’ Herz, bereits durch die Veilchen-Überraschung gerührt, erwärmte sich noch mehr beim Anblick und Geruch dieser behaglichen Lichter und Düfte. Ein Dorf! Heimstätten! Die Zeichen der Menschenhand, die der Wildnis Einhalt gebietet! Ihr Leben schien innegehalten zu haben während der Wanderungen in der Einsamkeit; nun existierte die Einsamkeit nicht mehr, und die Dinge wandten sich zum Besseren. Vielleicht fand sie sogar ein Bleichmittel, etwas zum Färben, hier im Dorf - warum nicht? - und könnte anfangen, sich selbst zu rekonstruieren.
    Und sicherlich war er hier. Eines dieser Holzhäuser mußte den jungen Amerikaner beherbergen. Und sie würde wieder das Staunen in den Augen des Geliebten sehen und wieder ganz werden. Sie fühlte sich schon blonder.
    »Stell ihn dir nicht als einen Liebhaber vor, sondern als einen Schreiber, einen Sekretär«, sagte sie zu Lizzie. »Und nicht nur meine Flugbahn wird er aufzeichnen, sondern auch deine, Lizzie; deine lange Geschichte des Exils und der List, die du ihm kaum angedeutet hast und die zehnmal soviel von seinen Notizbüchern füllen wird wie meine Geschichte. Denk an ihn als an den Schreiber aller jener, deren Geschichten wir ihm noch erzählen müssen - der Geschichten der Frauen, die sonst namenlos und vergessen blieben, aus der Geschichte gelöscht, als wären sie nie gewesen, damit auch er seine arme Schulter ans Rad stemmt und mithilft, der Welt einen kleinen Stoß in die neue Ära hinein zu geben, die morgen anfängt.
    Und wenn sich einmal die alte Welt um ihre Achse gedreht hat, daß der neue Morgen aufgehen kann, dann, dann! werden alle Frauen Flügel haben so wie ich. Diese junge Frau in meinen Armen, die wir an Händen und Füßen durch die Ketten des barbarischen Rituals gefesselt gefunden haben, wird nicht mehr darunter leiden, sie wird die Ketten zerbrechen und auffahren und davonfliegen. Die Türen des Puppenheims werden sich öffnen, die Bordelle werden sich von ihren Gefangenen leeren, die Käfige, golden oder nicht, werden auf der ganzen Welt in jedem Land ihre Insassinnen freilassen, die zusammen den Chor der neuen Morgendämmerung singen werden, der verwandelten -«
    »Es wird ein wenig komplizierter werden«, warf Lizzie ein. »Die alte Hexe hier sieht Stürme aufziehen, mein Mädel. Wenn ich in die Zukunft blicke, sehe ich wie in einem dunklen Spiegel. Verbessere mal deine Analyse, Mädchen, dann reden wir drüber.«
    Aber ihre Tochter achtete nicht darauf und fuhr, wie betrunken vor Visionen, weiter fort.
    »An diesem strahlenden Tag, wenn ich nicht mehr ein singuläres Wesen bin, sondern (mit allen Schönheitsfehlern) das Paradigma der Weiblichkeit, nicht mehr eine erdachte Fiktion, sondern eine schlichte Tatsache - dann wird er seine Notizbücher auf den Tisch des Hauses knallen und Zeugnis ablegen für mich und meine prophetische Rolle. Sieh in ihm, Lizzie, einen, der das Beweismaterial -«
    »Schuschuschusch«, sagte Lizzie zu dem ruhelosen Baby.
    Das Dorf kannte keine Straßen oder Plätze oder Gassen - die Häuser standen einmal nahe beisammen, einmal weit auseinander, als wäre die Anordnung dem Zufallsmuster von auf der Wiese liegenden Kühen nachgeahmt. Kein Zeichen von den Bewohnern, die um diese Zeit alle in ihren Behausungen waren, doch ein oder zwei Rentiere hoben den geweihgekrönten Kopf, um die Neuankömmlinge prüfend anzusehen, dann scharrten sie weiter nach Moos. Glocken und Bänder waren an einer Lärche vor dem längsten, niedrigsten, irgendwie offiziell wirkenden Gebäude des Dorfes aufgehängt, was einen festlichen Eindruck machte. Lizzie klopfte an die Tür - es fiel
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