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Nächte im Zirkus

Nächte im Zirkus

Titel: Nächte im Zirkus
Autoren: Angela Carter
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jedenfalls war sie nicht zugedeckt, wenn auch ein paar getrocknete Tierhäute hier und da herumlagen. Ein grobschlächtiger Holzbehälter neben ihr stellte sich als Wiege heraus, als das Kind darinnen aufwachte und schrie.
    Lizzie entfernte vorsichtig noch weitere Äste und trat durch die Öffnung ein. Sie fand einen Kerzenstummel in ihrer Tasche und zündete ihn an. Zuerst dachte sie, das Baby mit seinen rosigen Backen sähe sehr gesund aus - dann, als sie es hochhob, um es zu trösten, sah sie, daß sein wachsbleiches Aussehen durch Blut überdeckt wurde, aufgetragen wie Rouge, ein alter Stammesbrauch. Die Mutter öffnete die Augen. Falls sie dachte, ein Bär sei in den privaten Bereich ihres nachgeburtlichen Rituals eingedrungen, so nahm sie es gelassen. Ein weiterer Bär trug noch mehr von der Hüttenwand ab und stolperte herein. Der Ausdruck der Mutter änderte sich nicht. Lizzie fühlte ihr die Stirn mit dem Handrücken. Sie war sehr heiß.
    »Deck sie zu«, sagte Liz zu Fevvers und nahm das Baby an sich.
    »Was zur Hölle geht hier vor?« wollte Fevvers wissen, als sie tat, was Lizzie sagte.
    »Ich habe nun wirklich nicht die geringste Ahnung«, sagte Lizzie. »Es sei denn, dieses Lehrbild einer Frau in den Ketten des eigenen Reproduktionssystems, einer Frau, an Händen und Füßen durch die von deiner Physiologie verneinte Natur gefesselt, Sophie, dieses Bild wäre hier absichtlich aufgebaut, damit du es dir zweimal überlegst, eh du vom Freak zur Frau wirst.«
    Lizzie hielt das Baby an die Brust der jungen Mutter, aber entweder gaben ihre Brüste noch keine Milch oder sie hatte keine, denn das Baby nahm die Brustwarze in den Mund und saugte wild, dann ließ es mit einem schrillen Schrei der Enttäuschung los, und sein Gesicht verzerrte sich, es schrie und schüttelte die Fäuste. Die Mutter weinte, soweit es Erschöpfung und Fieber zuließen. Fevvers rieb ihr die kalten Hände in ihren warmen, während Lizzie das Baby schön in ihren Pelz packte.
    »Ich laß das kleine Kindchen nicht hier draußen, und dabei bleibt’s«, verkündete sie. »Armer Winzling, holt sich ja den Tod vor Kälte - wenn er vorher nicht verhungert.«
    »Du hast es schon immer mit den Findelkindern gehabt«, sagte Fevvers spitz, aber auch mit erneuter Zuneigung. »Aber was ist mit der armen Mama? Ist die vielleicht kein Findling?«
    »Die schaffst du schon, Süße.«
    »Viel wiegen tut sie nicht«, bestätigte Fevvers und hob sie hoch. Die Frau kam kurz zu sich und lächelte. Wenn ihr klargeworden wäre, daß Fevvers kein Bär war, sondern eine Frau, hätte sie sich bitter beklagt, weil die Tabus um den Geburtsbereich gebrochen worden waren. So ließ sie sich willig davon tragen, ins Land der Toten, wie sie annahm. Es freute sie, das Brabbeln kleiner Schreie zu hören, als ihr Baby in dieselbe Richtung aufbrach.
    Sie traten die Wände der Hütte um - die einfachste Art, wieder ins Freie zurückzukehren. Als Fevvers über den verstreuten Ästen mit der gut eingepackten jungen Mutter in den Armen innehielt, erblickte sie etwas in dem zerstampften Schnee, das sie einen kleinen Schrei ausstoßen ließ.
    »O Liz!«
    Ein Mirakel fragiler Veilchen, leicht angefroren und blaß, von der Farbe müder Lider, doch mit starkem Duft und Optimismus, standen in voller Blüte zwischen den geschützten Wurzeln der großen Kiefer. Veilchen!
    »Veilchen«, sagte Lizzie, »an Silvester.«
    »Schau sie dir an, die kleinen Lieblinge«, schwatzte Fevvers begeistert, »wie eine Botschaft von der kleinen Violetta, daß wir nicht vergessen sind. He, hast du gesagt, es ist Silvester?«
    Liz nickte. »Ich hab mitgezählt. Nach meiner Rechnung ist es Altjahrsabend. Wir stehen an der Spitze, am Kehrpunkt; morgen, meine Liebe, kommt ein anderer Zeitplan.«
    Fevvers hievte die junge Mutter über die Schulter und beugte sich heran, aber Lizzie bat:
    »Pflück sie nicht, laß sie stehen und samen. Schneeveilchen. Ganz was Rares.«
    Unter ihrer scheinbaren Gleichgültigkeit war auch sie bewegt, und die beiden Frauen lächelten einander an - ein Waffenstillstand oder gar der Friede war erklärt worden.
    »Ich sehe was...« Und Lizzie deutete auf eine Fußspur im Schnee neben den Veilchen: Sie waren nicht die ersten gewesen, die stehengeblieben waren, um sie zu bewundern. Abdruck eines Stiefels mit weicher Sohle. Nur eine Spur, wie Freitags Fußabdruck, ebenso geheimnisvoll, ebenso ominös.
    »Dort drüben!« Fevvers drehte sich um und zeigte mit dem Finger. Ein Fetzen
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