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Nächte im Zirkus

Nächte im Zirkus

Titel: Nächte im Zirkus
Autoren: Angela Carter
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London - wie der gute alte Dan Leno es nennt: ›ein kleines Dorf an der Themse, dessen hauptsächliche Erwerbszweige die Music Hall und der Schwindel sind‹.«
    Sie zwinkerte dem jungen Reporter theatralisch in der verschwimmenden Mehrdeutigkeit des Spiegelglases zu und riß mit einer knappen Bewegung die falschen Wimpern vom anderen Auge.
    Ihre Heimatstadt begrüßte sie in einem solchen Taumel, daß die Illustrated London News das Phänomen »Fevvermanie« taufte. Überall sah man ihr Bild. Die Läden wimmelten von »Fevvers«-Strumpfbändern, Strümpfen, Fächern, Zigarren, Rasierseife... Sie lieh sogar einer Backpulvermarke ihren Namen: wenn man ein Löffelchen voll von der Mixtur hinzugab, stieg der Kuchen luftig in die Höhe, genau wie sie. Die Heldin des Tages, Gegenstand gelehrter Auseinandersetzung und profaner Vermutungen, ließ diese Helena tausend Witzworte entstehen, die meisten schlichtordinär (»Kennen Sie schon den von dem alten Herrn, der es dank Fevvers bis ganz nach oben geschafft hat?«). Ihr Name war in aller Munde, von der Herzogin zum Straßenhändler: »Habt ihr Fevvers schon gesehen?« Und dann: »Wie macht sie das?« Und dann: »Glaubst du, sie ist echt?«
    Der junge Reporter wollte einen klaren Kopf behalten, deshalb schaute er - während er mit Glas, Notizbuch und Bleistift jonglierte - heimlich nach einem Plätzchen, wo er das Glas verschwinden lassen konnte, ohne daß sie es ständig wieder füllen würde - vielleicht auf diesem gußeisernen Kaminsims, dessen brutale Kante über seinen Platz auf dem Roßhaarsofa ragte und ihn bei jeglicher abrupten Bewegung bewußtlos zu schlagen versprach. Seine Jagdbeute hatte ihn in der Falle. Seine Versuche, das elende Glas loszuwerden, endeten nur im Absturz einer geräuschvollen Kaskade versteckter Billetdoux’, die ein sich windendes Schlangennest von Seidenstrümpfen vom Kaminsims nachzerrten, grün, gelb, rosa, scharlachrot, schwarz, welche eine machtvolle Geruchsnote ungelüfteter Füße aufsteigen ließen, letzter Bestandteil des höchst persönlichen Aromas, der Fevvers-Essenz, die den Raum durchdrang. Am Ende könnte sie den Geruch noch auf Flaschen ziehen und verkaufen, sie ließ sich keine Chance entgehen.
    Fevvers ignorierte seine verlegene Unruhe.
    Vielleicht hatten sich die Strümpfe herabgestürzt, um sich mit anderen kompliziert-intimen Kleidungsstücken zusammenzufinden, wurmdurchwimmelt von Bändern, von Spitzen zerfressen, die Aura intensiven Gebrauchs ausstrahlend, Kleider, die sie anscheinend wahllos während der vielen Kostümwechsel, die ihr Beruf erforderte, um sich warf. Ein weites Paar rüschenbesetzter Schlüpfer, offenbar dort niedergesunken, wohin sie es achtlos geschleudert hatte, umhüllte irgendeinen Gegenstand, Uhr oder Marmorbüste oder Aschenurne, alles war möglich, da er gänzlich unsichtbar war. Ein imponierendes Korsett vom Typ Eiserne Jungfrau ragte aus der leeren Kohlenschütte wie der rosane Leib einer riesigen Garnele, die aus ihrer Höhle kriecht; lange Schnüre schleiften wie lange dünne Beine. Das Zimmer war insgesamt ein Meisterinnenstück höchst femininen Chaos’ - es hätte, auf seine beiläufig-schmutzige Weise, einen jungen Mann beängstigen können, der ein konventionelleres Leben hinter sich hatte als dieser.
    Sein Name war Jack Walser. Er kam aus Kalifornien, von der anderen Seite einer Welt, in deren vier Ecken er sich die meiste Zeit seiner fünfundzwanzig Sommer herumgetrieben hatte - eine Pikaro-Karriere, die ihm seine Rauhheiten abgeschliffen hat: Jetzt hat er die glattesten Manieren, und man würde in seiner Erscheinung nichts mehr von dem kleinen Stromer erkennen, der vor langer Zeit als blinder Passagier auf einem Dampfer auftauchte, der von ’Frisco nach Shanghai fuhr. Im Verlauf seiner Abenteuer entdeckte er, daß er eine Begabung für den Umgang mit Wörtern besaß und eine noch größere dafür, sich selbst zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort zu finden. So stolperte er in seinen Beruf hinein, und zum augenblicklichen Zeitpunkt in seinem Leben war er nun freier Korrespondent einer Zeitung in New York, so daß er reisen konnte, wohin er wollte, mit der privilegierten Verantwortungslosigkeit des Journalisten, der Berufsnotwendigkeit, alles zu sehen und nichts zu glauben, die sich in Walsers Temperament mit einer typisch amerikanischen generösen Sympathie für eine dreiste Lüge vereinte. Nennt ihn Ishmael - aber Ishmael mit einem Spesenkonto und dazu einem unordentlichen
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