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Nächte im Zirkus

Nächte im Zirkus

Titel: Nächte im Zirkus
Autoren: Angela Carter
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gar nicht auf den albernen Gedanken kommen, einen dreifachen Salto zu schlagen.)
    Abgesehen jedoch von diesem beunruhigenden Geheimabkommen mit der Schwerkraft - das sicher ebenso zustandegekommen war wie das des nepalesischen Fakirs - fiel es Walser auf, daß das Mädchen nicht weiterging als irgendein anderer Trapezkünstler. Sie unternahm nichts und vollbrachte nichts, was ein flügelloser Zweibeiner nicht auch hätte zeigen können, obwohl sie es auf andere Weise tat, und als die Walküren schließlich in Walhall einritten, erkannte er verblüfft, daß eben diese Beschränkung der Nummer ihn einen Augenblick lang das Unvorstellbare hatte überlegen lassen - absolutes Aussetzen der Ungläubigkeit.
    Denn: könnte es nicht sein, daß eine wahrhaftige Vogel-Frau (einmal vorausgesetzt, so etwas gäbe es unwahrscheinlicherweise tatsächlich), um ihren Lebensunterhalt zu verdienen, sich so stellen mußte, als sei sie nur künstlich?
    Er lächelte bei diesem Paradox vor sich hin: In einer glaubenslosen Zeit mußte ein authentisches Wunder sich als Schwindel verkleiden, um Anklang zu finden. Aber - und Walser lächelte wieder, als er an seine Regung plötzlicher Überzeugung dachte: ich sehe, und ich glaube - was war mit ihrem Nabel? Hat sie mir nicht soeben erzählt, daß sie einem Ei entsprungen ist und nicht in utero herangewachsen? Eine eierlegende Spezies wird in embryonalem Zustand nicht von der Plazenta ernährt, benötigt deshalb keine Nabelschnur - und hat deshalb auch nicht die Narbe von deren Verlust zu tragen! Warum fragt sich nicht ganz London: Hat Fevvers einen Nabel?
    Es war während ihres Auftritts unmöglich auszumachen, ob sie einen hatte - Walser konnte sich an ihren Bauch nur als an eine glatte Fläche von rosa Trikot erinnern. Was immer ihre Flügel sein mochten, ihre Nacktheit war eine Bühnenillusion.
    Nachdem sie den dreifachen Salto hingelegt hatte, gab das Orchester Wagner den Gnadenstoß und hörte auf. Fevvers hing an einer Hand vom Trapez, winkte und warf Kußhändchen mit der anderen, die berühmten Flügel nun hinter sich gefaltet. Dann sprang sie einfach hinab, fiel einfach, schlug mit ihren enormen Füßen direkt auf der Bühne auf, mit einem nur allzumenschlichen dumpfen Krachen, welches durch das Beifallsdröhnen aus Applaus und Zurufen nur teilweise verdeckt wurde.
    Blumensträuße hageln auf die Bühne. Da es keine Marktlücke für gebrauchte Blumen gibt, beachtet sie die Buketts nicht. Ihr Gesicht, dick mit Rouge und Puder überzogen, damit man noch vom hintersten Sperrsitz aus sehen kann, wie schön sie ist, trägt ein triumphierendes Lächeln. Ihre großen weißen Zähne strahlen: ein Karnivorengebiß wie das von Rotkäppchens Großmutter.
    Allen wirft sie Kußhände zu. Sie faltet ihre zitternden Flügel zusammen, schaudernd, einen Schmollmund machend, das Gesicht verziehend, als steckte sie ein frivoles Buch beiseite. Irgendein Balletteleve trippelt herbei und legt ihr die Federrobe um, die so zart und grell ist wie die einst von den Eingeborenen Floridas verfertigten. Fevvers macht dem Dirigenten ihren Knicks mit riesiger, breitspuriger Unbefangenheit und wirft weiter unter Beifallstumult Küsse in die Menge, während der Vorhang fällt und das Orchester »God Save The Queen« anstimmt. Gott schütze die Mutter des fetten bärtigen Prinzleins, das seit Fevvers’ Premiere im Alhambra zweimal am Abend in der Königsloge Platz nimmt und dort, sich den Bart streichend, über die erotischen Möglichkeiten meditiert, die sich aus ihrer Fähigkeit des Schwebens ergeben, und über das Problem seines Bauches hinsichtlich der Missionarsstellung.
    Die Schminke verließ Fevvers’ Gesicht, als Lizzie mit Watte die Reinigungscreme abwischte und die verschmierten Wattekugeln achtlos auf den Boden fallen ließ. Fevvers kam wieder zum Vorschein: erhitzt starrte sie sich eifrig im Spiegel an, als wäre es eine freudige Überraschung, sich so rosig und mit glänzenden Augen wiederzufinden. Walser war über ihr gesundes Aussehen erstaunt: wie ein Weizenfeld in Iowa.
    Lizzie tauchte eine samtene Puderquaste in eine Schachtel mit hellem, pfirsichfarbenem Puder und stäubte sie über das Gesicht des Mädchens, um ihm den Glanz zu nehmen. Sie griff sich eine Haarbürste aus gelbem Metall.
    »Kann Ihnen nicht sagen, wer ihr die geschenkt hat«, verkündete sie verschwörerisch und schwenkte die Bürste, daß die kleinen Steine, mit denen sie inkrustiert war (in einem Muster, das die heraldischen
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