Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nächte im Zirkus

Nächte im Zirkus

Titel: Nächte im Zirkus
Autoren: Angela Carter
Vom Netzwerk:
das Orchester weiterspielte, hob sie sich langsam, langsam auf die Knie, dann auf die Füße, immer noch in ihr weites Cape eingehüllt, den hohen Helmputz roter und purpurner Straußenfedern auf dem Haupt. Sie fing an, die glänzenden Saiten ihres schwachgebauten Käfigs nachlässig zu verbiegen, leise maunzend: ich will hinaus.
    Ein Windstoß schaler Nachtluft fuhr über die sich kräuselnd regenden Bezüge der roten Plüschsitze des Alhambra, streichelte die Backen der Gipsputten, welche die monumental überhängenden ornamentalen Schnitzereien über der Bühne trugen.
    Von hoch oben ließ man ihre Trapeze herunter.
    Als ob der Anblick dieser Gegenstände sie zu einem Ausbruch neuer Energie inspirierte, ergriff sie die Gitterstäbe mit festen Händen und zog sie, von einem Trommelwirbel begleitet, auseinander. Sie stieg mit betonten und für sie ungewöhnlich zierlichen Bewegungen durch die Öffnung. Der goldne Käfig schoß nach oben zum Schnürboden, verfing sich einen Augenblick lang in den Trapezen.
    Sie schlug ihren Mantel zurück und warf ihn beiseite. Da stand sie.
    In ihrem rosa Trikot ragte ihr Brustbein hervor wie der Bug eines Schiffes; die Eiserne Jungfrau balancierte ihren ausladenden Busen und ließ ihre Hüften zusammenschmelzen, bis beinahe gar nichts mehr da war und es schien, als könne sie bei jeder sorglosen Bewegung entzweibrechen. Im Schritt und an den Brustwarzen funkelte ihr Trikot mit Flitter besetzt, sonst war es schmucklos. Ihr Haar war unter den bunten Straußenfedern verborgen, die ihrer enormen Größe nochmals gut achtzehn Zoll hinzusetzten. Auf dem Rücken trug sie eine luftige Last geschlossenen Gefieders, grellfarbig wie das eines brasilianischen Kakadus. Auf ihrem roten Mund lag ein künstliches Lächeln.
    Schaut mich an! Mit großartiger, stolzer, ironischer Eleganz zeigte sie sich den Augen ihres Publikums, als sei sie ein wunderbar erlesenes Geschenk, zu schön, als daß man damit spielen dürfte. Schauen, nicht anfassen.
    Überlebensgroß war sie und so prägnant und scharf umrissen wie nur je ein Objekt, das betrachtet, aber nicht berührt werden soll. Hersehen! Hände weg!
    SCHAUT MICH AN!
    Sie erhob sich auf die Zehenspitzen und drehte sich in einer langsamen Pirouette, so daß die Zuschauer ihren Rücken deutlich betrachten konnten: Glaubt ihr es nun? Dann breitete sie ihre großartigen, schweren Arme in einer segnenden Rückwärtsgeste aus, und mit dieser Bewegung entfalteten sich auch ihre Flügel, breiteten sich vielfarbig und mindestens sechs Fuß weit, von der Spannweite eines Adlers, eines Kondors, eines Albatros, im Überfluß mit derselben Nahrung genährt, welche die Flamingos rosa macht.
    Oooooooh! Das Aufstöhnen der Zuschauer wehte als Windstoß der Bewunderung durch das Theater.
    Walser jedoch verwickelte sich selbst launig in folgende Argumentation: Die Flügel der Vögel sind zunächst einmal nichts anderes als ihre Vorderfüße oder, wie wir sagen würden, ihre Arme, und das Skelett eines Vogels zeigt uns in der Tat Ellbogen, Handgelenke, Finger, alles vollständig ausgeformt. Wenn also diese wunderschöne Frau tatsächlich, wie ihre Werbekampagnen behaupten, eine legendäre Vogel-Frau ist, dann dürfte sie nach allen Gesetzen der Evolution und der menschlichen Vernunft gar keine Arme haben, denn ihre Arme wären dann ihre Flügel!
    Anders ausgedrückt: Würde man an die Existenz einer Dame mit vier Armen glauben, alle vollkommen gebildet wie die einer Hindugöttin, zu beiden Seiten dieser Schultern eingehängt, die wie die eines üppig-schönen Schiffsheizers sind? Denn genau das ist die wahre Natur der physischen Anomalie, an welche Miss Fevvers uns zu glauben auffordert.
    Nun wären Flügel ohne Arme eine Unmöglichkeit für sich; aber Flügel mit Armen - das wäre das doppelt unwahrscheinlich Unmögliche, das Unmögliche im Quadrat! Yes, Sir!
    In seiner mit rotem Plüsch ausgeschlagenen Presseloge dachte er, während er sie durch den Operngucker betrachtete, an Tänzerinnen, die er in Bangkok gesehen hatte, Tänzerinnen, die mit ihren gefiederten, vergoldeten, spiegelglasbesetzten Oberflächen, ihren eckigen, hieratischen Gesten eine unendlich wirkungsvollere Illusion, der luftigen Vogelwesenheit hervorgezaubert hatten als diese allzu buchstäblich geflügelte Bardame vor ihm. »Sie strengt sich zu arg an«, kritzelte er in sein Notizbuch.
    Er dachte an den indischen Seiltrick, wie das Kind auf dem Marktplatz in Kalkutta das Seil hinaufhangelte und
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher