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Nächte im Zirkus

Nächte im Zirkus

Titel: Nächte im Zirkus
Autoren: Angela Carter
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Yokohama aus nach Seattle übers Meer reisen, wo die Große Demokratische Tour durch die Vereinigten Staaten von Amerika beginnt.
    Quer durch die ganze USA verlangen lärmende Publikumsmengen nach ihrer Ankunft, welche mit der des neuen Jahrhunderts zusammenfallen wird.
    Denn wir befinden uns am letzten, schwach glimmenden Ende, wir sind am Rest, am qualmenden Zigarrenstummel des neunzehnten Jahrhunderts angekommen, der eben im Aschenbecher der Geschichte ausgedrückt wird. Es herrscht die letzte schwindende Jahreszeit im Jahre des Herrn achtzehnhundertneunundneunzig. Und Fevvers besitzt den ganzen éclat einer neuen Epoche, die sogleich loslegen will.
    Walser ist vorgeblich gekommen, um ihren mythischen Ruf noch ein wenig aufzublähen, und wenn es menschenmöglich ist, will er ihn gleichzeitig (oder statt dessen) auch platzen lassen. Nur soll man nicht glauben, daß die Enthüllung, sie sei ein Schwindel, das Ende ihrer Variété-Karriere wäre. Weit gefehlt! Wenn man sie nicht anzweifelte, wo bliebe die Spannung? Wie hieße die Schlagzeile?
    »Fertig für den nächsten Schuß?« Sie zog die tropfende Flasche aus dem schuppigen Eis hervor.
    Aus der Nähe betrachtet ähnelte sie, man mußte es schon sagen, eher einer großen Zugstute als einem Engel. Sechs Fuß zwei Zoll in ihren Strümpfen mußte sie Walser ein paar Zoll vorgeben, damit beide gleichziehen konnten, und wenn es auch hieß, sie sei »himmlisch hochgewachsen«, so war doch hinter der Bühne wenig Himmlisches an ihr, es sei denn, im Paradies gäbe es eine gigantische Schnapstheke, hinter der sie als Barfrau präsidieren könnte. Ihr Gesicht, breit und oval wie eine Fleischplatte, war aus grobem Ton auf einer schlichten Töpferscheibe geformt: nichts Subtiles war an ihrem Reiz, und das war auch gut so, wenn sie nun als demokratisch gewählte Gottheit des unmittelbar bevorstehenden Jahrhunderts des Kleinen Mannes fungieren sollte.
    Sie schüttelte die Flasche einladend, bis sie sich von neuem verspritzte. »Gibt Haare auf die Brust!« Walser bedeckte lächelnd sein Glas mit der Hand: »Ich habe bereits Haare auf der Brust, Ma’am.«
    Sie lachte vor sich hin, zufrieden mit der Antwort, und goß sich selbst mit so großzügigem Schwung nach, daß der Schaum in ihre Rougedose überlief, wo er nun in blutigen Bläschen zischte und schmatzte. Es war unmöglich, sich irgendeine Geste von ihr vorzustellen, die nicht diese großartige, ordinäre, achtlose Generosität gehabt hätte. An ihr war genügend da für alle, und noch mehr. Man dachte nicht an Berechnung, wenn man sie sah, so präzise kalkuliert war ihr Auftreten. Wer hätte gedacht, daß sie nachts von Bankkonten träumte oder daß für sie die Sphärenmusik im Klingeln der Kassen bestand? Nicht einmal Walser ahnte das.
    »Und Ihr Name...«, sagte Walser ermunternd, Bleistift gezückt. Sie stärkte sich mit einem großen Schluck Champagner.
    »Als ich ein Baby war, hätte man mich in einer Masse Findelkinder nur an einem erkennen können, an dem winzigen Bißchen Flaum, den gelben Federchen auf meinem Rücken, über den beiden Schulterblättern. Genau wie der Flaum an einem Küken war das. Und die mich auf der Treppe in Whitechapel gefunden hat, in dem Wäschekorb, wo mich unbekannte Personen zurückgelassen hatten, das kleine Mädchen, ganz liebevoll verpackt in frisches Stroh und zwischen den Krümeln und Splittern zerbrochener Eierschalen, die da über diese arme ausgesetzte Kreatur drübergestolpert ist, sie hat mich im Augenblick in die Arme geschlossen in der großen Güte ihres Herzens und mich zu sich genommen.
    Und drinnen, als sie mich ausgepackt hat und das Tuch abgewickelt hat, und als die Mädels alle das verschlafene seidenweiche milchweiße Vögelchen gesehn haben, da haben sie alle gesagt: ›Sieht aus, als wachsen dem kleinen Ding gleich Federn!‹ Und Cockneys sagen nun einmal ›Fevvers‹ für feathers ... So war’s doch, Lizzie«, und sie drehte sich zu ihrer Garderobiere.
    Bis dahin hatte sich diese Frau nicht an dem Interview beteiligt, sondern hatte steif neben dem Spiegel gestanden, ihr Sektglas wie eine Waffe in der Hand und den Blick so genau prüfend auf Jack Walser gerichtet, als wollte sie präzise bis auf den letzten Farthing das Geld in seiner Brieftasche schätzen. Nun fiel Lizzie ins Gespräch ein, mit dunkelbrauner Stimme und einem seltsamen Akzent, den Walser nicht kannte - dem der in London geborenen Italiener mit seinen zerlegten Diphthongen und
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