Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nadelstiche

Nadelstiche

Titel: Nadelstiche
Autoren: Baden & Kenney
Vom Netzwerk:
Schlafzimmer, ein Raum von fast klösterlicher Kargheit. Jake betrachtete die straff gespannte Tagesdecke und hob den unteren Teil an. Genau wie er vermutet hatte – die Lakenzipfel waren in Krankenhausmanier festgesteckt. Im Schrank standen die Schuhe militärisch akkurat aufgereiht; die Kleidungsstücke hingen alle in derselben Richtung. Nachttisch: Lampe, Wecker, ein Reader’s-Digest- Heft. Kommode: Kamm, Bürste, Talkumpuder mit Lavendelduft. Bettdecke, Vorhänge, Teppich – alles beige. Jake drehte sich einmal um 360 Grad – kein einziges Foto, kein Bild, keine Nippsachen. »Welche Frau wird über sechzig Jahre alt, ohne auch nur ein bisschen Krimskrams anzusammeln, Fotos von Enkeln, Nichten oder alten Bekannten?«
    »Ja, das könnte auch ein Hotelzimmer sein«, pflichtete Todd bei. »Irgendwie unheimlich.«
    Jake ging voraus in die Küche und öffnete den Kühlschrank. »Der Kühlschrankinhalt kann auch dabei helfen, den Todeszeitpunkt zu bestimmen.« Jake lächelte Todd an und schüttelte eine Milchpackung. »Die Verfallsdaten sind unsere kleinen Helfer.«
    Todd spähte über Jakes Schulter. »Mannomann, die Frau hat ja noch weniger im Kühlschrank als ich. Ein paar Muffins, Diätmargarine, Saft und Milch. Muss viel auswärts gegessen haben.«
    Jake warf einen Blick in den Mülleimer – leer. Spülmaschine – sauberer als ein Ausstellungsstück. »Hier hat der Mörder nichts zurückgelassen.«
    Das Wohnzimmer gab auch bei genauerem Hinsehen nicht mehr her – keine Unordnung, keine Fotos, keine Seele. Jakes Blick wurde von einem einzigen glattrunden Fleck auf dem Kaffeetisch angezogen, einer Stelle, auf die kein Fingerabdruckpulver gefallen war. Die Spurensicherer mussten da irgendwas weggenommen haben, dachte er, eine Tasse oder ein Glas. In einem normalen Haushalt hätte das nicht viel zu bedeuten gehabt, aber in Amanda Hogaarths Wohnung kam es ihm bemerkenswert vor.
    Erst jetzt trat Jake näher an die Leiche heran. Amanda Hogaarth lag auf dem Rücken, die Knie leicht nach rechts abgeknickt, Arme ausgebreitet. Ein brauner Rock bedeckte ihre stämmigen Beine bis zur Wade; ein beiger Pullover reichte sittsam bis über den Rockbund und ließ keine Haut sehen. Sie hatte diese steife Margaret-Thatcher-Frisur, die bei Frauen Ende der sechzig beliebt war, und bei ihrem Sturz war kein Härchen in Unordnung geraten.
    Todd ging neben der Leiche in die Hocke. »Sehen Sie sich das an«, sagte er, als Jake es ihm gleichtat. Er zeigte auf einen winzigen Nadeleinstich innen im Ellbogengelenk, wo dem Opfer offensichtlich Blut abgenommen worden war.
    Das allein war noch nicht verdächtig. Die Frau hätte auch einfach am Tag ihres Todes zur Blutabnahme beim Arzt gewesen sein können.
    »Und«, fuhr Todd mit wachsender Eindringlichkeit fort, »sehen Sie sich ihren Mund an.«
    Ms Hogaarths perfekte obere Zahnreihe war falsch, und das Gebiss war ihr verrutscht, sodass sie einen leicht fratzenhaften Gesichtsausdruck hatte. Um die Mundwinkel waren kleine Abschürfungen zu sehen.
    »Sie wurde geknebelt«, bemerkte Jake. Er blickte nach unten. Ihre Beine waren nackt, und die Füße mit den entstellenden Ballenzehen und Schwielen des Alters lagen unbeschuht auf dem Teppich. Er war erst seit zehn Minuten in ihrer Wohnung, aber Jake hatte das starke Gefühl, dass diese Frau wohl kaum barfuß herumgelaufen wäre. »Habt ihr ihre Strumpfhose gefunden?«, fragte er Todd.
    »Ich hab den Technikern gesagt, sie sollen danach suchen, aber ich glaub nicht, dass sie sie finden werden. Der Täter hat sie wahrscheinlich mitgenommen. Die Totenstarre lässt nach«, stellte Todd weiter fest. »Sie ist seit ungefähr vierundzwanzig Stunden tot.«
    »Vielleicht auch länger, Todd. Der Algor mortis wird uns da genauere Informationen liefern. Überprüfen Sie ihre Körperkerntemperatur und messen Sie auch die Umgebungstemperatur. Die könnte die Zersetzung verlangsamt haben.«
    »Die Klimaanlage lief auf Höchststufe. Hier drin sind’s keine 19 Grad«, berichtete Todd.
    »Ja, ihre Körpertemperatur muss in dem kühlen Raum schneller abgesunken sein«, erklärte Jake, »weshalb es den Anschein hat, als wäre sie schon länger tot, als sie in Wirklichkeit ist.«
    »Die Leichenflecke sind fixiert.« Todd drückte mit dem Daumen auf die dunkelrote Blutansammlung in ihrem Rücken, und es blieb keine blasse Stelle zurück. »Sie ist ganz sicher seit mindestens acht oder neun Stunden tot, und nach Eintritt des Todes ist sie nicht mehr bewegt
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher