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Nackt

Nackt

Titel: Nackt
Autoren: David Sedaris
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rosigeres Leben auszumalen. Ich blinzelte in der engen Zelle aus Schlackegemäuer umher, und mir wurde klar, dass mich ein ganzes Leben voller Wunschdenken nicht weiter als bis hierher gebracht hatte. Nie würde es jubelnde Menschenmengen oder angesehene Regisseure geben, die in ihr Megaphon brüllten. Vielleicht musste ich mich im Liegen mit dieser schroffen Wirklichkeit abfinden, aber während ich das unternahm, konnte ich nicht ein ganz kleines bisschen auf und ab wackeln?
    Ich hatte den Vorlesungsplan meines Zimmergenossen auswendig gelernt und huschte in den Pausen aufs Zimmer zurück, wo ich rasend schnell und anfallartig wackelte, ohne es jedoch recht zu genießen, aus Angst, er könnte jeden Augenblick zurückkehren. Vielleicht fühlte er sich nicht, oder er beschloss in letzter Minute, eine Vorlesung zu schwänzen. Dann hörte ich seinen Schlüssel im Schloss, sprang vom Bett auf, fuhr mir durch die Haare und griff nach einem der Lehrbücher auf dem Requisitentisch. «Ich lerne nur gerade für die Töpferei-Prüfung», sagte ich. «Mehr hab ich gar nicht vor, nur hier schön auf dem Stuhl sitzen und alles über die Geschichte der Töpfe nachlesen.» So sehr ich mich auch anstrengte, es hörte sich immer an, als hätte ich mir etwas Geheimnisumwittertes oder Perverses zuschulden kommen lassen. Er wirkte nie im mindesten verlegen, wenn er beim Hören einer seiner vielen Heavy-Metal-Scheiben erwischt wurde, eine Übung, die ich viel beschämender finde als alles, was ich bisher kenne bzw. noch kennenlernen werde, mir jedenfalls bisher noch nicht mal vorstellen konnte. Es gab keinen anderen Ausweg: Ich musste mir etwas einfallen lassen, um den Typ loszuwerden.
    Seine größte Schwäche schien seine Freundin zu sein, deren Fotografie er an einem Ehrenplatz über der Stereo-Anlage angepinnt hatte. Sie gingen seit der zehnten Klasse miteinander, und während er aufs College gegangen war, machte sie in ihrem Heimatort zwei Jahre Schwesternschule. Durch langjähriges Abhören der vierzig Spitzenreiter der aktuellen Schlagerparade hatte ich eine ziemlich lachhafte und klischeelastige Vorstellung von Liebe. Ich hatte das Gefühl nie selbst verspürt, wusste aber, dass es bedeutete, nie Es tut mir leid sagen zu müssen. Es kam über Nacht und war voller Pracht. Liebe war eine Rose und ein Hammer. Sie machte blind, sie nahm uns alles, doch sie gab auch viel zu viel, sie war, kurzum, ein seltsames Spiel, und durch sie drehte sich die Welt. Mein Zimmergenosse und seine Freundin glaubten, sie seien stark genug, den Monat zu überstehen, ohne sich zu sehen, aber ich war da nicht so sicher. «Ich weiß nicht, ob ich ihr mit all den Ärzten über den Weg trauen könnte», sagte ich. «Liebe vergeht wie ein Hauch, besonders in einer Krankenhaus-Umgebung. Konkurrenz belebt das Geschäft, aber Liebe ist keine Einbahnstraße. Denk mal drüber nach.»
    Wenn mein Zimmergenosse die Stadt verließ, verbrachte ich das ganze Wochenende wackelnd im Bett und malte mir seinen tragischen Autounfall aus. Ich stellte ihn mir vor, eingewickelt wie eine Mumie, Arme und Beine an Flaschenzügen hängend. «Die Zeit heilt alle Wunden», sagte seine Mutter und packte die letzte seiner Langspielplatten in einen Pappkarton. «Zwei Jahre Bettruhe und er ist wieder so gut wie neu. Wenn er aus dem Krankenhaus entlassen wird, richte ich ihm, glaube ich, das Wohnzimmer her. Da gefällt es ihm.»
    Manchmal erlaubte ich ihm, mich in einem Stück zu verlassen, indem ich mir vorstellte, dass er zum Militär ging oder seine Freundin heiratete und mit ihr irgendwohin zog, wo es warm und sonnig war, wie Peru oder Äthiopien. Wichtig war nur, dass er das Zimmer verließ und nie wiederkam. Erst musste ich ihn loswerden, dann den Nächsten, dann den Übernächsten, bis ich allein übrig blieb, privat wackelnd und ruckelnd.
    Zwei Monate nach Semesterbeginn machte mein Zimmergenosse mit seiner Freundin Schluss. «Und ich werde Tag und Nacht in diesem Zimmer sitzen, bis ich weiß, was ich falsch gemacht habe.» Er betupfte sich die feuchten Augen mit dem Ärmel seines Flanellhemdes. «Du und ich, kleiner Kumpel. Von jetzt an gibt es nur noch dich und mich und Jethro Tull. Was ist denn mit deinem Kopf? Na, macht der alte Tumor sich wieder mausig?»
    «College ist das Beste, was dir je passieren kann», pflegte mein Vater zu sagen, und er hatte recht, denn dort entdeckte ich die Drogen, das Trinken und das Rauchen. Ich weiß nicht viel über die wissenschaftlichen
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