Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nachts kommen die Fuechse

Nachts kommen die Fuechse

Titel: Nachts kommen die Fuechse
Autoren: Cees Nooteboom
Vom Netzwerk:
Deinen Einsatz hattest du liegenlassen und auf mich gedeutet. Ich hätte die tausend an mich nehmen sollen, legte aber den Jeton auf Rot. Schwarz. Es gibt keine Geheimnisse.

    Draußen regnete es noch immer. Jemand schlug vor, einen Strandspaziergang zu machen. Die Frauen wollten nicht, sie blieben in einem tabac am Boulevard, in der Nähe des Kasinos. Windstöße und dieses andere Geräusch, die Brandung. Eine Weile standenwir da und wurden naß. Dann sagte Tico, der Mann hat mir überhaupt nicht gefallen. Nigel entgegnete nichts, ich auch nicht.

    Schon mal wach geworden in einem nordfranzösischen Badeort außerhalb der Saison? Hotel de Wasweißich, Kater, Blick aufs Meer. Möwen, noch immer Regen. Petit déjeuner mit Aprikosenmarmelade und diesen eingepackten Butterstückchen aus Holland? Ein halbes Jahr später der große Hotelbrand im Corona de Aragón, in Zaragoza. Fotos von Menschen, die in den obersten Stockwerken an den Fenstern winkten, als wäre es ein Fest. Neunundachtzig Tote. Fast nur Spanier, ein paar Deutsche, ein Kolumbianer und eine Niederländerin. Nur eine.

Paula II

    D u hast mich gerufen, ich antworte. Ob du es hörst, weiß ich nicht. Hier wirkt eine Chemie, die ich nicht beherrsche. Vielleicht geht es über die Haut, über das Foto, das du ans Fenster gestellt hast. Du hast nicht laut gesprochen, und trotzdem habe ich deine Stimme erkannt. Das meine ich mit Chemie. Ich lerne hier viel. Zunächst einmal, daß keine der Vorstellungen zutrifft, die ich mir je vom Tod gemacht hatte. Das ist das erste, was wir hier lernen. Ich sage wir, aus alter Gewohnheit, aber außer mir ist niemand da. Hier müssen unendlich viele Tote sein, doch sie sind abwesend in ihrem eigenen Tod, genau wie ich in meinem. Ich bin kein Körper mehr. So habe ich es mir nie vorgestellt: daß da nichts sein würde, an dem ich mich festhalten kann. Keine Substanz. Kein Licht und kein Schatten. Keine Temperatur und keine Zeit. Im übrigen, hier? Es gibt kein Hier. Ich glaube nicht, daß ich es erklären kann. Es gibt nichts vor mir und nichts hinter mir. Ich lebe noch, aber um mich sind keine Gegebenheiten. Es hat lange gedauert, bis ich das verstand. Wie kann man von lange sprechen, wenn es keine Zeit gibt? Ich habe keine neue Sprache bekommen, ich muß mich behelfen. Ich kann mich nicht sehen, aber ich weiß, daß ich dabin. Ohne Körper. Um mich herum ist nichts. Auch kein Raum. Wenn ich sage, daß ich dich gehört habe, so stimmt das. Wenn ich sage, daß ich noch lebe, so stimmt das auch. Vielleicht sollte ich nicht versuchen, das zu erklären, sondern nur sagen, wie es ist, in Begriffen, die auf dich abgestimmt sind, die du als Begriffe verstehst, auch wenn du den Zustand nicht verstehst. Ich bin völlig allein, wie alle anderen Toten, die ich nicht sehe und nicht höre. Ich bin meine Erinnerungen, das immerhin, aber ich weiß nicht, wie lange ich sie festhalten kann. Erst danach bin ich wirklich tot, das meine ich, wenn ich sage, ich lebe noch. Ich bin zwar gestorben, aber ich bin nicht tot. Für mein Gefühl muß ich vorher etwas zu Ende bringen. Vielleicht stimmt es, daß wir noch eine Weile an den Orten umherirren, an denen wir einst waren, und deshalb noch etwas sagen können. Oder nur meinen, daß wir noch etwas sagen und jemand uns dann hört. Ich weiß es nicht. Manchmal merke ich, daß ich nach wie vor in Begriffen meines Körpers denke, allerdings in Form von Kummer, nein, Verlust. Phantomschmerz geht ein wenig zu weit, wenn der ganze Körper verschwunden ist, aber etwas in der Art muß es sein. Doch es gibt keine Geschichte, die das trifft. Ich weiß, daß mich im Gymnasium die Geschichte von Odysseus in der Unterwelt so bewegt hat. Wie er seine Mutter sieht, all die bleichen Schatten, die sich an ihn klammern. Also,so ist es nicht. Niemand besucht uns, soviel weiß ich schon. Wir müssen an einer Vergangenheit arbeiten, die uns langsam entgleitet. Zukunft gibt es für mich nicht, nur Vergangenheit. Vergangenheit, die nicht mehr zur Zeit gehört. Eine andere Kategorie. Du mußt ab jetzt davon ausgehen, daß alle meine Worte Versuche sind, Fälschungen, um weiter in deiner Sprache zu sprechen. Vielleicht sind wir ja eine gefährliche Gesellschaft. Es gibt Völker, bei denen der Name des Toten tabu ist. Er hat keinen Namen mehr. Ihr Name darf nie mehr genannt werden. In Japan bekommen die Toten nach ihrem Ableben einen anderen Namen, einen Totennamen. Vielleicht habe auch ich einen. Ich weiß es nicht. Ich habe
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher