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Nacht über Algier

Nacht über Algier

Titel: Nacht über Algier
Autoren: Yasmina Khadra
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Daumenlutschen und erstem Schuß getrieben hat - totales Blackout. Name, Abstammung, Adresse - unbekannt. Man hat an Amnesie gedacht, aber der Kerl verfügt über ein Elefantengedächtnis. Man hat an Psychose gedacht, aber der Patient ist gewitzter als ein Zauberkünstler. Also, was steckt dahinter? Niemand wagt eine Hypothese. Eines Abends hat unser Mann beschlossen, sich der Polizei zu stellen. Damals, also vor gut zehn Jahren, war er Anfang Zwanzig und wirkte eher sympathisch mit seinen ausdrucksvollen Augen. Als man ihn zu mir brachte, wußte ich gleich, daß dieser Typ aus gutem Hause stammt. Sehr kultiviert, sehr ruhig. Ein bißchen zu sehr vielleicht. Aber glaubwürdig. Akademiker? Man hat nachgeforscht und nichts gefunden. Junger Betriebskader? Auch hier ergaben die Nachforschungen nichts. In den Prozeßakten wurde vermerkt: >Weigert sich, seine Identität anzugeben.< Später wurde er als SNP [ (frz.) Abkürzung für Sans Nom Patronymique, wörtl.: ohne Familiennamen] Als SNP bezeichnete man die Kinder, die durch den Befreiungskrieg zu Vollwaisen wurden und deren Familiennamen unbekannt waren.] als >Namenloser<, eingetragen. Er hat keinen Einspruch erhoben. Was er will? Daß man ihn einsperrt, damit er keine Greueltaten mehr begehen kann. Er erklärt, eine Menge Leute umgebracht zu haben, erinnert sich aber nicht mehr, wo er die Leichen begraben oder liegengelassen hat. Seine ersten Opfer waren zwei Alte, die er überhaupt nicht kannte. Kurz vor einer kleinen Ortschaft hatte er eine Panne. Mitten in der Nacht. Er klopfte an eine Tür und bat um Hilfe. Man nahm ihn auf. Am nächsten Morgen machte er sich in aller Frühe davon, sein Auto ließ er stehen. Ein gestohlenes Auto. Zwei Tage später wurde ein Nachbar durch Verwesungsgeruch alarmiert. Die Gendarmen entdeckten das alte Paar schließlich in den Latrinen. Das war 1970 ... Zwei Monate darauf wurde er auf einer abgelegenen Straße von einem Lieferwagen mitgenommen. Ein Forstarbeiter fand das Auto später im Wald unter einem Baum versteckt. Im Wageninnern lag die Leiche eines Viehhändlers . Und dann suchte er eines Abends den nächstgelegenen Polizeiposten auf, um sich zu stellen. Er gestand sieben Morde. Und dann noch einmal zehn, insgesamt an die zwanzig. Außer für das ältere Paar und den Viehhändler gibt es jedoch keinerlei Hinweise auf die Opfer.«
    Plötzlich scheint der Kerl auf dem Foto zu grinsen. Ich lege schnell eine Karteikarte darauf.
     
     
    »Wenn du geglaubt hast, mir damit zu imponieren, dann hast du dich geschnitten«, gebe ich ihm zu verstehen. »In meinen Schubfächern liegen noch viel abscheulichere Akten. Über Serienmörder spricht man nicht, um unsere Zai'm [ (arab.) Anführer] nicht zu verstimmen, doch Tabus stoppen weder ihre rasche Zunahme noch ihre Fähigkeit, Schaden anzurichten. Eine ganze Reihe von denen sind durch mein Büro defiliert. Einer abgedrehter als der andere. Einige haben sogar geredet, danach hatte ich jede zweite Nacht ganz verdammte Alpträume.«
    »Das hier ist aber etwas anderes!« brüllt der Professor aufgebracht und schlägt mit der Faust auf den Tisch.
    Seinem Blick nach zu urteilen, scheint es mir angebracht, seine Erregung zu dämpfen. Ich fordere ihn auf, weiterzureden: »Was genau ist das für eine Geschichte?«
    Er hebt die Faust, steckt sie unter den Tisch und massiert sie unauffällig. Nach einer Weile gesteht er mit matter Stimme: »Der Schock meines Berufslebens. Er bringt mich dahin, daß ich kein Auge mehr zutun kann.«
    Ich betrachte eingehend meine Fingernägel, um den Anschein zu erwecken, als dächte ich gründlich über die Sache nach, und nehme dann das Gespräch wieder auf:
    »Wo steckt er im Moment?«
    »Im Gefängnis.«
    »Und was hab ich mit diesem ganzen Schlamassel zu tun?«
    Der Professor verschränkt seine Finger und räuspert sich verlegen. Er steht auf und stellt das Tonbandgerät an. »Hör dir das an, Brahim.«
    Die Spulen quietschen. Gleich darauf breitet sich eine Grabesstimme im Zimmer aus.
    »Der Kreis schließt sich. Ich stehe wieder am Ausgangspunkt. Das hätte ich mir denken können. Es gibt nichts zu sehen, ich muß weitergehen. Das war von Anfang an sonnenklar. Der Fellaga, der die Mitglieder meiner Familie zerstückelt hat, wollte mir sicherlich etwas beweisen. Aber was genau? Er wußte es selbst nicht. Er konnte mir keine Erklärung liefern. Einen besonderen Grund zum Töten zu haben rechtfertigt nicht zwangsläufig den Mord. Ich hätte der Benommenheit des
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