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Nacht der Geister

Nacht der Geister

Titel: Nacht der Geister
Autoren: Kelley Armstrong
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sich zu einer so entsetzlichen Grimasse, dass die alte Frau neben Nicolette zurückwich und nach ihrem Rosenkranz griff. Als die Marquise die Zähne bleckte, schienen ihre Gesichtszüge seltsam zu verschwimmen, als versuchte ihr Geist, sich freizukämpfen. Nicolette hatte schon mehrmals Geister gesehen. Sie besaß diese Fähigkeit, seit sie ein Kind gewesen war so wie auch ihre Mutter und ihr Großonkel. Aber jetzt, als der Geist der Marquise sich zeigte, wich jeder Mensch ringsum mit einem kollektiven Keuchen zurück. Nicolette warf einen verstohlenen Blick in die Runde. Die anderen hatten es also auch gesehen? Der Büttel stieß die Marquise auf einen Karren.
    Für diese Reise wartete keine vergoldete, von Pferden gezogene Karosse. Ihr Fahrzeug war ein schmutziger Karren, kaum groß genug, um sie aufzunehmen; verdrecktes Stroh bedeckte den Boden. Die Marquise musste darauf kauern wie ein Tier, und sie fauchte und fluchte noch, als das Fahrzeug den Hof verließ.
    Rings um Nicolette begann die Menge sich in Richtung NotreDame in Bewegung zu setzen. Sie zögerte; sie war sich sicher, dass sie den letzten Abschnitt dieser Reise der Marquise nicht sehen wollte. Aber die Meute schob sie mit sich, und nach ein paar schwachen Versuchen, sich zur Wehr zu setzen, gab sie auf.
    Das Schafott war vor der Kathedrale errichtet worden.
    Nicolette sah zu, wie die Marquise die Stufen hinaufgezerrt und in die Knie gezwungen wurde und man ihr das lange Haar abschnitt.
    Nicolette hatte eine bessere Sicht auf das Geschehen, als ihr lieb war, aber die Menschenmenge hinter ihr war so dicht, dass sie nicht flüchten konnte. Als sie versuchte, ihre Aufmerksamkeit vom Schafott abzuwenden, trat ein Mann aus der Menge hervor. Ein Ausländer mit olivfarbener Haut und dunklem, welligem Haar. Das allein hätte ausgereicht, um ihre Aufmerksamkeit zu erregen; was ihren Blick aber festhielt, war seine Schönheit. Nicolette mochte von sich selbst glauben, dass sie über derlei Dinge erhaben war, aber jetzt ertappte sie sich dabei, dass sie den Mann anstarrte wie ein Mädchen aus der Klosterschule. Er sah aus wie ein Soldat nicht aufgrund seiner Kleidung, die vollkommen unauffällig war, sondern wegen seiner Haltung. Ein Mann, der Aufmerksamkeit erregte . . . aber niemand sah in seine Richtung. Für Nicolette konnte das nur eins bedeuten. Er war ein Geist. Der Geist stieg die Stufen zum Schafott hinauf. Oben angekommen, blieb er stehen und nahm Haltung an, während der Henkersknecht noch immer das Haar der Marquise abhackte. Ganz offensichtlich wollte der Geist einen Platz in der ersten Reihe. War er eines von den Opfern der Marquise gewesen? Endlich, als der Henker seine Axt vom Boden hob, streckte der Geist die Hände aus, die Handflächen nach oben gedreht. Es war eine seltsame Gebärde als wollte er sich überzeugen, ob es regnete. Seine Lippen bewegten sich.
    Etwas schimmerte in seinen Händen und nahm dann Gestalt an. Ein Schwert. Ein riesiges, glänzendes Schwert. Als seine Hand hinunter bis zum Heft glitt, wurde Nicolette klar, was er war, und sie fiel auf die Knie und bekreuzigte sich. Trotz der dichten Menge hatte der Engel die Bewegung bemerkt, und seine Augen fingen ihren Blick auf. In dieser Sekunde jagte ihr jede Verfehlung durch den Kopf, die sie jemals begangen hatte, und ihr wurde kalt in der Gewissheit, dass sie gerichtet . . . und in der Waage für zu leicht befunden wurde. Die Lippen des Engels verzogen sich zu der Andeutung eines Lächelns, und er neigte kurz den Kopf, beiläufig wie ein Nachbar bei einer zufälligen Begegnung. Dann kehrte sein Blick zu der Marquise zurück, und sein Ausdruck wurde hart. Die Axt des Henkers sauste herab. Ein Seufzer stieg von der Menschenmenge auf, als der Kopf der Marquise auf der Plattform aufschlug. Aber Nicolette sah ihn nicht fallen. Stattdessen starrte sie wie gebannt auf den gelben Nebel, der vom Körper der Marquise aufstieg. Der Nebel wirbelte, wurde dichter und begann die Gestalt einer jungen Frau anzunehmen. Der Engel hob sein Schwert, und seine Stimme stieg auf, so klar und melodisch wie die Glocken von NotreDame: »MarieMadeline d’Aubrey de Brinvilliers, für deine Verbrechen bist du gerichtet worden.« Als er das riesige Schwert hob, warf der Geist, der aus dem Körper der Marquise hervorströmte, den Kopf zurück und lachte.
    »Ich bin nicht die Marquise, du Narr«, fauchte er.
    Die Stirn des Engels legte sich in Falten; sein verwirrter Blick war so menschlich wie das Nicken, das
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