Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nacht der Geister

Nacht der Geister

Titel: Nacht der Geister
Autoren: Kelley Armstrong
Vom Netzwerk:
Frau. »Er ist größer, als ich gedacht habe.«
    Der Mann hob seinen Spaten auf und begann wieder zu graben. Die Frau legte die Arme um den Körper und schauderte, während sie zusah. Angesichts der Kälte und der Arbeit, die sie da gerade verrichteten, war das Schaudern nur einleuchtend.
    Aber ihr Gesichtsausdruck war es nicht, die glänzenden Augen, die hervorschnellende Zunge.
    »Es war gut«, sagte sie. »Besser dieses Mal. Beim nächsten Mal sollten wir nicht so lang warten.«
    »Wir müssen vorsichtig sein«, sagte der Mann, ohne aufzublicken.
    »Warum? Niemand erwischt uns. Wir sind unbesiegbar.
    Das . . . « Sie schauderte wieder und zeigte zu dem Körper hinüber.
    »Das macht uns unbesiegbar. Es macht uns zu etwas anderem.«
    Der Mann sah mit einem kleinen Lächeln zu ihr auf. Er nickte, dann griff er nach dem eingewickelten Körper. Als er ihn näher zog, riss der Wind die Verpackung auf. Die toten Augen eines Jungen starrten in den Nachthimmel.
    Die Szene löste sich in Dunkelheit auf.
    ∗ ∗ ∗

    Ich habe schon Leichen gesehen. Ich habe selbst manchen in die Geisterwelt geschickt. Wenn man sich mit den dunklen Mächten anlegt, sollte einem klar sein, dass das Ergebnis ein frühes Grab sein kann. Aber mit einem frühen Grab meine ich, dass man sterben kann, bevor man alt und grau ist. Der Mord an jemandem, der zu jung ist, um sich zu verteidigen, ist der einzige Akt, der immer und unter allen Umständen unverzeihlich bleibt.
    Diese Frau war also der mordende Geist, von dem die Parzen wollten, dass ich ihn fand? Sie konnten es als erledigt betrachten. Der einzige Lohn, den ich dafür wollte, war, anwesend sein zu dürfen, wenn sie sie in ihre Höllendimension zurückstießen.
    Die Dunkelheit lichtete sich, und ich blickte auf, in der Erwartung, den Thronsaal zu sehen. Stattdessen stand ich vor einem frostbeschlagenen Fenster. Ich berührte die Scheibe mit den Fingern. Kalt und glitschig, aber meine Finger hinterließen keine Spur auf dem Glas. Als ich an einer klaren Ecke hindurchspähte, sah ich Sonnenlicht durch fallenden Schnee hindurch.
    Ein seltsamer Anblick, als sähe man Sonnenstrahlen durch den Regen.
    Das Lachen einer Frau ließ mich zusammenfahren, und in Gedanken war ich sofort wieder in der Grassteppe und dem Gekicher, das ich dort zum ersten Mal gehört hatte.
    »Halt, warte!«, sagte die Frau. »Das ist der beste Teil. Mach das langsamer.«
    Ich wandte mich vom Fenster ab. Am anderen Ende des Zimmers hatte sich ein junges Paar auf dem Sofa zusammengerollt und sah fern. Der Mann hatte eine Fernbedienung in der Hand, mit der er auf den Videorecorder zielte.

    Hatte es in den Sechzigern schon Videorecorder gegeben?
    Nein, Moment mal. Es war ein anderer Mann. Also war ich auch woanders. Oder doch nicht?
    Mein Blick blieb an der jungen Frau hängen. Eine Blondine Anfang zwanzig, rundes Gesicht, halbwegs hübsch. Dieselbe Frau. Oder? Die Frisur war immer noch überkandidelt, aber auf eine Art, an die ich mich von der Highschool her erinnerte. Und der Rock war immer noch kurz, aber es war ein modernerer Minirock. Ich versuchte ihr Gesicht genauer zu erkennen, aber sie sah zum Fernseher hin und wandte mir ein Viertelprofil zu.
    »Okay, jetzt kommt’s.«
    Die Frau beugte sich vor. Ihre Augen leuchteten. Wieder ein Ruck des Wiedererkennens, als ich den hingerissenen Ausdruck bemerkte, den ich auch an der Frau neben dem frischen Grab gesehen hatte.
    »Komm schon, dreh das lauter«, sagte sie, während sie den Mann in den Arm boxte.
    Er lachte und schaltete die Lautstärke höher. Von dort, wo ich stand, konnte ich den Bildschirm nicht sehen, aber ich hörte den Ton. Die Stimmen klangen verzerrt.
    Heimvideoqualität.
    Ich sprach die Verschwimmformel und schlich über den Teppich, bis ich einen Blick auf den Bildschirm werfen konnte. Eine hellgrüne Bluse war im Weg. Jemand, der mit dem Rücken zur Kamera stand. Typisch. Die Bluse ging aus dem Weg. Nacktes Fleisch ein nacktes Frauenbein. Oh ja. Ein sehr typisches Heimvideo sogar, die Sorte, für die Videokameras gemacht wurden. Das brauchte ich nicht zu sehen.
    Ich wollte mich gerade abwenden, als die Kamera nach hinten fuhr und ich das ganze Bild sehen konnte. Ein Mädchen, nicht älter als Savannah, nackt und an ein Bett gefesselt. Blutbeflecktes Bettzeug.
    »Jetzt kommt’s.« Die Stimme der Frau kletterte um ein paar Töne nach oben, und sie begann die Schluchzer des Mädchens nachzuahmen. »Ich will zu meiner Mommy!«
    Mit einem Aufheulen
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher