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Nachhinein

Nachhinein

Titel: Nachhinein
Autoren: Lisa Kraenzler
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Mutter.
    Ich soll mit dem Lärm aufhören und anständig üben.
    8.
    Sechs Kätzchen.
    Ein ganzer Wurf, Fellknäul um Fellknäul an der Scheunenwand zerschmettert.
    Nur das siebte nicht.
    Der Bauer macht das nicht zum ersten Mal. Er hat Übung, das sieht man genau.
    Mein Blick folgt seiner schwieligen Pranke in den Katzenkorb. Dicke Finger zwicken ein Nackenfell, ziehen und zerren dran.
    In der Luft strampelt was.
    Jetzt holt er aus. Nicht weit, nur weit genug.
    Der vom Misten, Ernten, Hieven und Halten gestählte Arm schleudert das maunzende Wurfgeschoss auf einer pfeilschnellen Geraden gegen die ziegel- und katzenblutrote Wand.
    Im Korb kneifen die Todgeweihten ihre klebrigen Äuglein zusammen, als könnten sie’s nicht mit ansehen.
    Die Angst ist blind und getigert, flauschig und kurzschwänzig, schwarz und weiß.
    Das erste vierbeinige Geschoss, vielleicht ein Brüder-, vielleicht ein Schwesterchen, prallt von der Wandfläche zurück in den Raum, hüpft über den Betonboden wie flache Kiesel über den Dorfweiher.
    Dann liegt es still.
    Manchmal, wenn sich die Bauernstiefel aus schwarzem, abwaschbaren Gummi nicht sicher sind, wenn’s unterm Pelz verdächtig zuckt, dann fackelt der Absatz nicht lange. Ein einzelnes, wütendes Aufstampfen genügt. Schon ist’s geschehen.
    Aus dem geknackten Schädelchen tritt Hirn wie Brät aus einer geplatzten Wurst. In die Rillen des Profils quillt eine blutige, mit Knochensplittern versetzte Masse.
    Der komplexe Vorgang aus Greifen, Werfen und Treten erfordert volle Konzentration.
    Mein Einschleichen bleibt unbemerkt.
    Ich warte auf den nächsten Wurf und während er hingeht, nachsieht, nachtritt, greife ich zu und rette dich, wie einst die Pharaonentochter den Moses, aus dem Körbchen.
    Natürlich kann ich dich, die du anderthalb Jahre älter, größer und schwerer bist als ich, nicht den ganzen Weg von Sulpach bis nach Hause tragen. Wir könnten Rollen tauschen ⁠… Aber das willst du nicht.
    »Katzen können von Geburt an laufen!«, sagst du und ich glaube dir.
    Wir machen uns auf den Heimweg. Du bist ein zutrauliches Katzentier und folgst mir bis ins obere Stockbett.
    Jetzt liegst du da, eng zusammengerollt, ein dichtes Paket aus Gliedern, den Kopf in meinen Schoß gebettet und willst gestreichelt werden.
    Meine Hände gleiten über Baumwolle und Jeans. Ich kann deine Muskeln, Gelenke und Rippen durch den Stoff fühlen. Deine Beschaffenheit interessiert mich, ich mache meine Entdeckungen: Jede weiche Stelle wird irgendwann hart. Man muss nur fest genug drücken.
    Dass nichts, was fleischig und flauschig ist, so bleibt, weiß ich bereits, und muss an die aufgebahrte Alte denken, die ich an der Hand meiner schwarz gekleideten, weinenden Mutter in ihrer gepolsterten Kiste liegen gesehen habe. Tot. Alles Fleisch aufgebraucht.
    Unter der dünnen, gelblichen Haut schimmerte es knochenhart, als hätte man knittrige Seidentücher über ihr Skelett gebreitet.
    Die Gebeine drängen Jahr für Jahr weiter an die Oberfläche. Pausbacken verschwinden, Ellbogen werden spitz. Aus Wachsen wird Erwachsen, wird Alt und schließlich, kurz bevor Rippen und scharfkantige Kiefer die letzte Hautschicht durchbrechen, stirbt man. Ja.
    Aber du nicht. Du noch lange nicht.
    Inzwischen sind meine Hände in deinem Gesicht angekommen, aus dem in regelmäßigen Abständen Miau- und Schnurrlaute zu mir aufsteigen. Die Haut da ist ganz zart. Vorsichtig fahre ich Konturen ab: überall Rundungen. Zwei Wangenkugeln, die sich beim Lächeln wie Polster unter Augenschlitze schieben und Wimpern auffangen. Ein Nasenknubbel. Der Wulst, auf dem deine Brauen liegen.
    Trockene Stellen schicken meine Finger weiter zu klebrigen. Zum Haaransatz hin wird es feucht, ein bisschen schwitzig. Ich kann dich riechen. Es ist die vertraute Mischung aus kaltem Rauch und Schweiß, die eigentlich mehr stinkt als riecht.
    Ich bin zu sehr bei der Sache. Die Sanftheit deiner nackten Kätzchenhaut entzündet ein Jucken in meinen Fingerspitzen. Vom Wischen und Streichen werde ich wund. Unsere Hautmäntel, streichelnd zerschlissen, liegen Fleisch auf Fleisch.
    Plötzlich, tief eingetunkt in deine Züge, von Tausend Poren angesaugt, spüre ich, wie sich die Rillenlandschaft meiner Handflächen einebnet. Feingezeichnete Fingerlinien verschmelzen. Ich bin nicht länger identifizierbar anhand meiner Abdrücke.
    Und immer wieder dein fiepsiges Katzenstimmchen, dein süßes Miau, das durch mein Muschelohr in den Hals fließt und weiterströmt,
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