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Mutterschuldgefuehl

Titel: Mutterschuldgefuehl
Autoren: Ulrike Hartmann
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Geborgenheit in der Schulklasse nur noch so wenig zählt.
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    Es gibt aber noch eine andere Methode, Kinder zur Leistung zu motivieren: Wir erzeugen Visionen. Die eine Art ist, ein seriöses, erfolgreiches Berufsbild in Aussicht zu stellen. Das ist eine Vision, die Kinder zwar beflügeln kann, jedoch nicht unbedingt antreibt, besser in Mathematik oder Sachkunde zu werden. Das Ganze bleibt ärgerlicherweise für die Kleinen noch etwas einseitig oder abstrakt. Viel effektiver ist es da, düstere Prognosen abzugeben. Kinder sind so schön leicht zu erschrecken.
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    Â»Fabian! Bist du jetzt bitte mal still!« Die Lehrerin steht neben dem Jungen am Tisch und ihre Augen werden schmal. »Wenn du nicht endlich Ruhe gibst, dann wirst du das hier nie lernen!«
    Fabian schaut die Lehrerin grinsend an. Es ist sein zweiter Tag in der Schule. Es ist so aufregend, er kann nicht eine Sekunde still sitzen bleiben.
    Â»Is‘ doch egal!«, sagt er. »Will ich ja auch gar nicht!« Er schüttelt sich albern wie ein Kaspar, hopst und springt vor seinem Stuhl. Die anderen Kinder lachen.
    Â»Hey, jetzt reicht es!«, ruft die Lehrerin.

    Â»Frau Lehrerin, Frau Lehrerin«, ruft da der kleine Paul und streckt eifrig seinen Finger in die Höhe. »Muss der Fabian jetzt in die schlechte Schule?«

Die Zukunftsängste unserer Kleinen
    Auch früher gab es Leistungsdruck in der Schule. Auch früher gab es Angst vor Lehrern und Noten. Aber neu ist, dass schon Fünf- und Sechsjährige glauben, mit schlechter Leistung in die »schlechte Schule« zu kommen, von der wir natürlich alle wissen, welche das sein soll. Es verbreitet sich wie ein Lauffeuer unter den Kindern. Ich kann meiner Tochter noch so oft erzählen, dass es gar keine schlechte Schule gibt. Sie glaubt mir nicht. Die Hauptschule ist zur Drohung und zum Synonym für lebenslanges Unglück geworden. Fragen Sie die Kinder: »Hauptschule« heißt »arbeitslos, arm, unglücklich, schlechtes Kind«. »Gymnasium« heißt »erfolgreich, Geld, glücklich, gutes Kind«.
    Diese Zukunftsängste geben dem ganzen Ambiente unter Grundschulkindern eine besondere Note. Die Angst sitzt ihnen im Nacken. Und wir brauchen keine moderne Hirnforschung, um zu wissen: Unter Angst lebt es sich erstens nicht gut und zweitens lernt es sich schlecht. Die Freude am Neuen, am Lernen und am Entdecken kann da auch schon Kindern verloren gehen, denn über ihren Köpfen hängt das Damoklesschwert: »Bin ich gut genug, um aufs Gymnasium zu dürfen?«
    Wie viele Kinder lernen in der zweiten Klasse nur noch für die Noten? Der Inhalt scheint zweitrangig zu werden. Und noch nie gab es wahrscheinlich so viele Grundschüler und -schülerinnen, die sich ernsthaft um ihre berufliche Zukunft sorgen. Bauch- und Kopfschmerzen, Verdauungsstörungen, wache Nächte, Tränen und schwelende Versagensängste sind Alltag bei mehr Kindern unter zehn Jahren als je zuvor. Manche resignieren da ganz schnell. Der Satz »Ich kann es ja doch nicht« lässt bei aufmerksamen Eltern sämtliche Alarmglocken schrillen. Es droht der gefürchtete Teufelskreis »Versagensangst
- schlechte Noten - mehr Ängste - noch schlechtere Noten«, aus dem ein Kind alleine schwer wieder herausfindet. Andere Grundschüler werden wegen ihrer Angst aggressiv, beschimpfen sich und andere wüst, werden unruhig und panisch. Die Dritten entwickeln einen Ehrgeiz und eine Arbeitswut, die sie auf Dauer völlig überfordern. Ärzte berichten vermehrt von Depressionen unter Kindern, sogar vom Burn-out-Syndrom, das bisher ausschließlich Erwachsenen vorbehalten war. Natürlich gibt es noch Kinder, die arglos zur Schule gehen, aber ihre Zahl sinkt. So wie sich Mütter und Lehrer zunehmend unter Stress fühlen, so empfinden auch immer mehr Kinder einen heftigen Leistungsdruck.

Konkurrenzdenken unter Grundschülern
    Interessanterweise will es keiner gewesen sein, der den Kindern diesen überaus unschönen Leistungsdruck vermittelt. Eltern und Lehrer schieben sich gegenseitig den Schwarzen Peter zu. Die Eltern, sagen die Lehrer verärgert, sind schuld an dem stressigen Klima. Sie sind von Anfang an viel zu ängstlich und auf gute Noten aus und reden ständig vom Gymnasium. Die Lehrer, sagen viele Eltern empört, sind schuld an dem ewigen Druck, sie verlangen zu viel in zu kurzer Zeit und drohen mit der Hauptschule.
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