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Mutterschuldgefuehl

Titel: Mutterschuldgefuehl
Autoren: Ulrike Hartmann
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unterrichtet. In offenen Lernformen wie Freiarbeit, Wochenplanarbeit und Projektarbeit sollen Kinder verschiedener Altersstufen sich gegenseitig bereichern, zusammen und voneinander lernen. Böse Zungen behaupten, Kombiklassen seien nur eine Sparmaßnahme oder ein Mittel, kleine Grundschulen zu erhalten. Aber das ist bestimmt nur ein Gerücht übellauniger Lehrer. Offiziell heißt es, diese neue Schuleingangsphase ermögliche es Kindern, drei bis fünf Jahre lang die Grundschule zu besuchen, und könne sich damit den individuellen Leistungen eines Kindes viel besser anpassen. Schwächere Kinder können ein Schuljahr daranhängen, ohne dass sie in einen ganz neuen Klassenverbund wechseln müssen. Und stärkere Kinder können leicht eine Klasse überspringen. Jedes Kind kann ganz gemäß seiner Fähigkeiten und seines Lerntempos lernen. Von Anfang an ist die individuelle Leistung im Vordergrund, nicht die Klassengemeinschaft, so wie es auch die Eltern der Hamburger Initiative gern sehen.
    Wer Flexibilität unter den kleinsten Schülern mag, wird dieses Schulmodell lieben. Das merken wir schnell im Schulalltag. Unsere Tochter hat nicht nur alle paar Wochen einen neuen Sitznachbarn (offenbar gilt das Rotationsprinzip) und jedes Jahr eine andere Klassenzusammensetzung (eine Klasse geht, eine kommt neu), sondern auch jedes Jahr eine neue Klassenlehrerin. Jahrgangsübergreifender Unterricht für 25 Kinder scheint irgendwie kraftraubend zu sein. Die Fluktuation im Lehrpersonal ist erstaunlich hoch, der Krankenstand erschreckend. Geplant ist ein Klassenlehrerwechsel etwa alle zwei Jahre, aber offenbar zehrt es ein wenig an den Nerven, bei steigenden Ansprüchen von Schulministerium und Eltern zwei putzmuntere Klassen auf einmal wie in Klasse 1/2 in einer Altersspanne von fünf bis acht Jahren in Freiarbeit zu unterrichten, wenn es darüber hinaus wenige Möglichkeiten gibt, die erheblichen Lern- und Leistungsunterschiede durch individuelle Förderung auszugleichen. Da sind junge und ältere Kinder, faule und fleißige, langsame und schnelle, leise und laute, schüchterne und freche, behütete und vernachlässigte, begüterte und arme, deutsch- und fremdsprachige.
Nicht viele Schulen haben genügend Förderlehrer, Sonderpädagogen oder Schulpsychologen. Oder kennen Sie einen? Da machen selbst die jüngsten Lehrerinnen manchmal schlapp. Ein Fest für Kinder, die gern jedes Jahr eine nette Abwechslung an der Tafel haben.
    Wer es aber gerne ruhiger und geborgen hat, wer sich gerne im vertrauten Rahmen bewegt und dazu neigt, eine Lehrerin zu verehren und nur für sie zu lernen, kleine Bildchen zu malen und ihr in Schönschrift stolz die ersten Buchstaben zu präsentieren, wer nicht versteht, warum die Lehrerin oft so angespannt und ungeduldig ist und wenig Zeit hat, ja, manches Mal sogar zu Wutanfällen neigt, wer seine Mitschüler mag und sein Herz an sie hängt und leidet, wenn die Lehrerin und die Hälfte der Klasse jedes Jahr wieder wechseln, der muss aufgebaut werden. Dringend.

Zensuren: gute und schlechte Kinder
    Natürlich sind Schulen nicht doof. Sie haben ihre Methoden, mit denen sie gedenken, alle Kinder aufzubauen und zu motivieren. Und wie werden seit jeher Kinder in Schulen zur Arbeit angetrieben? Was ist das älteste Instrument, das kleine und große Menschen immer wieder zu Höchstleistungen motiviert? Was ist das, was Menschen bewegt, Dinge zu tun, an die sie vielleicht sonst nie im Traum gedacht hätten? Das Lob. Was gibt es Schöneres als ein kräftiges Lob? Und das Lob des Lehrers schlechthin ist die gute Note. Auf der anderen Seite aber lauert dummerweise die Bestrafung. Das vernichtende Urteil. Die Geringschätzung. Sprich: die schlechte Note. Und damit ist das Ganze ein einfaches, aber ungemein wirkungsvolles System, das einfach nicht totzukriegen ist und von uns Eltern, die wir immer noch das Trauma fürchten, mit Argwohn betrachtet wird. Der Lehrer erklärt den Kindern gewisse Ziffern zwischen 1 und 6 aus seiner Feder zu erstrebenswerten Gütern, die man nur erlangt, wenn man sich nach den Vorgaben vorbildlich verhält (das funktioniert wie bei Orden und Titeln bei Erwachsenen), und schon wollen
alle diese »guten« Ziffern haben und die »bösen« unbedingt vermeiden.
    Nun ist Notengebung in der 1. Klasse nicht in allen Bundesländern verfügbar. Deswegen haben manche Lehrer
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