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Mutproben

Mutproben

Titel: Mutproben
Autoren: Ole von Beust
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zur ersten reformierten Oberstufe, und zusammen mit einem Gymnasium in den Elbvororten waren wir die Ersten überhaupt, die dieses Modell anwendeten. Die Kurse wurden nicht mehr starr organisiert, sondern jeder Schüler konnte seine eigenen Kurse individuell kombinieren. Wir fühlten uns in einer Pionierfunktion. Und ich übernahm meine erste verantwortungsvolle Aufgabe: Als Stufenrat sollte ich die Gesamtorganisation der Oberstufe mitgestalten; in welchem Raum findet welcher Kurs statt, welche Fächer beinhalten was.
    Das war es, was mir lag. Vor allem aber konnte ich meine eigenen Vorstellungen umsetzen. Dieses Muster trifft man häufig bei Leuten in der Politik an. Viele meiner Kollegen, die später Karriere machten, waren auch Klassensprecher und Schulsprecher, als Jugendwart im Sportverein oder in ähnlichen Funktionen tätig. Das ist schon sehr markant, ein bestimmter Typ Mensch, dem auch ich angehöre. Immer sofort dabei, immer obenauf. Immer in dem Bemühen, seine eigenen Ideen durchzubringen. Und doch ist es bis heute ambivalent für mich. Denn zum einen verspüre ich den Drang, immer mittendrin zu sein, und gleichzeitig trage ich auch ein tiefes Bedürfnis nach Ruhe und Abgeschiedenheit in mir.
    Oft wurde ich gefragt, warum ich mich ausgerechnet der Politik zugewandt habe. Warum ich nie opponiert habe gegen meinen Vater, der mir die Politik so deutlich vorlebte mit
seinen Monologen über das Weltgeschehen in seiner meinungsstarken Art. Die Antwort ist schlicht: Ich hatte keinen Anlass dazu. Das mag vielleicht verwundern. Doch mein Vater sprach nie anmaßend über Politik. Er war nie bevormundend, sondern immer reflektiert und offen, ein liberaler Geist. Einer, der auch Gegenstimmen zuließ und zuhören konnte. Dieser Geist ging übrigens von beiden Elternteilen aus. Das ist das eine. Zum anderen hatten meine Brüder diese Freiheiten schon zuvor für sich erkämpft. Sie hatten die Konflikte mit unseren Eltern bereits ausgetragen. Der neun Jahre ältere Bruder war ein 68er, mit allem, was dazugehört. Er lag vor allem mit meinem Vater über Kreuz. Der Älteste wurde noch vor Kriegsende geboren und gehörte insofern zu einer ganz anderen Generation mit ihren eigenen Problemen. Ich hingegen musste mir nichts mehr erkämpfen. Als ich klein war, waren meine Eltern schon recht alt, ich hatte praktisch alle Freiheiten. Und ich hatte ein Mofa. Wenn meine Eltern wussten, wo ich war, dann durfte ich auch spät abends erst nach Hause kommen.
    Für meine Brüder allerdings war die Situation durchaus eine andere. Noch heute erlebe ich an bestimmten Äußerungen, dass gewisse Dinge aus der Jugend in ihnen noch immer gären. Sie machen meinem Vater Vorwürfe, warum er sich so stark in ihr Leben eingemischt hat und wie er sie nur so bevormunden konnte. Mein Vater war ein Choleriker damals, wurde später jedoch wesentlich milder. Wenn er vor mir seine Anfälle bekam und mich anbrüllte, dann brüllte ich zurück, die Türen knallten kurz und heftig, aber wir versöhnten uns
auch wieder schnell. Das Gefühl, das meine Brüder vielleicht noch hatten, sich gegen die Eltern auflehnen zu müssen, weil man unter Druck gesetzt wurde, hatte ich jedenfalls nie.

    Mit zehn Jahren begann ich, mich konkret für Politik zu interessieren. Was zuvor reine Neugierde war, nahm nun konkrete Züge an. Ich las regelmäßig die Zeitungen, die bei uns Zuhause stapelweise herumlagen. Vor allem hatte es mir eine Serie jener Jahre aus der BILD-Zeitung angetan: »20 Jahre Kriegsende«. Darin ging es um die letzten Kriegstage bis zur Kapitulation der Deutschen 1945.
    Das Dritte Reich wirkte auf mich grausam und beeindruckend zugleich. Von Faszination kann keine Rede sein, aber diese Massenveranstaltungen, die Fahnen und Inszenierungen, die opernreifen Hitlerreden, das alles beeindruckte mich. Demgegenüber stand die grausame Vernichtung der Juden, der Krieg, die Konzentrationslager. Es war wohl eine gewisse Zwiespältigkeit, die mich in ihren Bann zog. Und obwohl zu Hause immer vom Krieg gesprochen wurde und von den Grausamkeiten jener Jahre, so hatte das alles für mich auch etwas sehr Abstraktes. Wenn ich meine Eltern davon reden hörte, dann klang das für meine Begriffe unwahrscheinlich weit weg, und dabei waren gerade erst zwanzig Jahre vergangen. Neben der Zeitungslektüre beeindruckten mich die Romane des ostfriesischen Schriftstellers Hans Hellmut Kirst. Mein Großvater väterlicherseits war mit ihm befreundet und hatte alle seine Bücher bei
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