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Mutproben

Mutproben

Titel: Mutproben
Autoren: Ole von Beust
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sich zu Hause in den Regalen stehen. Heute ist Kirst längst vergessen, aber in jenen Jahren war
er ein großer Bestseller-Autor. Die Handlungen seiner Geschichten waren eng mit dem Dritten Reich verknüpft und beschäftigten sich kritisch mit der deutschen Vergangenheit. Die Trilogie wurde mit Joachim Fuchsberger in der Hauptrolle verfilmt und war ein großer Erfolg.
    Meine wachsende Begeisterung für die Politik nahm auch komische Züge an. Ich hörte Politikern gerne beim Reden zu, ich mochte, wie sie sich ausdrückten und wie sie ihre Sätze betonten. Das Zuhören lag mir und irgendwann fing ich an, die Politiker zu imitieren. Zuhause führte ich meine Imitationen dann vor der Familie vor und meine Eltern kringelten sich vor Lachen. Bis heute bin ich ein ziemlich guter Stimmen-Imitator. Ich konnte Hitler imitieren, Walter Ulbricht und später dann auch Erich Honecker. Im Laufe der Jahre kamen Helmut Kohl und Edmund Stoiber dazu. Während meiner Amtszeit habe ich gern bei Sitzungen vor Kollegen mal eine Kostprobe dieses Talents gegeben. Manchmal trug das herrlich zur Entkrampfung bei.

    Meine Eltern hatten nie das Bestreben, aus mir einen Politiker zu machen. Aber sie unterstützten meine Leidenschaft. Und so bekam ich von ihnen jedes Jahr zu Weihnachten den Weltalmanach von Fischer unter den Tannenbaum gelegt. In diesem Jahreslexikon konnte ich mich stundenlang vergraben. Da las ich dann, welche Staaten wie beschaffen sind, welche wirtschaftliche Entwicklung sie genommen hatten und wo sie politisch stehen. Auch über Deutschland konnte man dort alles nachschlagen. Welche Parteien wie vertreten sind, und wie
man diese erreichen kann. Ich entwickelte eine Leidenschaft für Parteien und ihre Strukturen, die bis heute anhält. Vor allem für Kampagnen, für Slogans und generell für politische Kommunikation konnte ich mich sehr begeistern. Ich schrieb also alle deutschen Parteien an, die im Weltalmanach vertreten waren, große wie kleine, und bat darum, mir Wahlplakate zuzuschicken. Begierig wartete ich morgens auf die Postlieferung, und wenn Papprollen dabei waren, dann wusste ich schon: Ich bekomme neue Plakate. Allein der Geruch verhieß für mich pures Glück. Der Geruch nach Druckerschwärze auf dem frischen Papier hatte etwas beinahe Erotisches für mich. Mein gesamtes Kinderzimmer, sämtliche Wände und sogar die Decke waren mit Wahlplakaten gepflastert.
    Spannend fand ich daran vor allem, mit welchen Methoden die Parteien für sich werben. Einmal bekam ich ein Riesenplakat von der Bayernpartei zugeschickt, darauf war ein gemalter bayerischer Löwe auf einem Sockel zu sehen, darüber ein Schriftzug in riesigen Buchstaben. Ich benötigte fast die gesamte Fläche meines Zimmers, um das Ding vollständig auszubreiten. Politische Präferenzen hatte ich keine. Ich sammelte alles, was ich bekommen konnte. Da waren die Rechten ebenso zahlreich vertreten wie die Linken. Von der SPD bis zur CDU, von der DFU, der Deutschen Friedensunion, bis zur ADF, der Aktion Demokratischer Fortschritt. Vor allem die kleineren Parteien freuten sich über mein Interesse und meinten wohl, nun bald ein neues Mitglied mit mir gewonnen zu haben.
    Meine Leidenschaft reichte weit über das reine Sammelerlebnis hinaus. Ich beschäftigte mich auch programmatisch intensiv
mit den jeweiligen Parteien. Die »Freie Soziale Union« etwa hatte für mich einen der interessantesten Ansätze parat. Sie waren Anhänger eines Wirtschaftsmodells, in dem es keine Zinsen gibt. Ihr Programm beruhte auf der Theorie des schweizerischen Wirtschaftstheoretikers Silvio Gesell, der die freiwirtschaftliche Bewegung begründet hatte. Ziel dieser Bewegung war es, eine stabile und freiheitliche Marktwirtschaft durch sogenanntes Freigeld zu schaffen. Das Grundübel allen Wirtschaftens war nach Gesells Vorstellung, dass die Leute ihr Geld behielten und dadurch eine künstliche Verknappung befeuerten, die wiederum die Preise anheizt und somit die Zinsen steigen lässt. Und darum müsse man, so Gesell, eine Währung einführen, die die Menschen dazu animiert, ihr Geld auszugeben, anstatt es zu horten. Geld sollte also ein Verfallsdatum haben. Je länger man das Geld bei sich behielt, desto weniger sollte es wert sein. Nach einer Woche würde es um fünf Prozent im Wert sinken, nach zwei Wochen schon um zwölf Prozent. Ein koordinierter Werteverfall.
    Eine Ursache der Weltwirtschaftskrisen sahen die Verfechter jener Theorie darin begründet, dass die Finanzindustrie das
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