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Muss ich denn schon wieder verreisen?

Muss ich denn schon wieder verreisen?

Titel: Muss ich denn schon wieder verreisen?
Autoren: Evelyn Sanders
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erstaunlichste ist, sie erfüllen nicht nur einen dekorativen Zweck, nein, die Kerzen werden alle angezündet, sobald es draußen zu dämmern beginnt.
    »Früher haben wir die Dinger immer angesteckt, um die kalte Bude wenigstens optisch zu erwärmen«, hatte Irene erläutert, als ich mich einmal über diese Illumination wunderte, »doch irgendwann war ich die ewigen Reklamationen leid, habe der Stadt per Einschreiben meinen demnächst zu erwartenden Tod durch Erfrieren angekündigt, und dann endlich haben sie die antiquierte Zentralheizung erneuert. Da waren die Kerzen aber schon fester Bestandteil meines Haushaltsbudgets.«
    Ähnlich liebevoll wie die anderen Räume ist auch das Gästezimmer ausgestattet. Neben dem äußerst bequemen, weil neuzeitlichen Bett gibt es eine Sitzecke, unter dem Fenster steht eine uralte Puppenstube, mit der man richtig spielen kann, der Kleiderschrank ist leer und auf der ebenfalls leeren Kommode liegt eine verzweigte, auf Hochglanz polierte Wurzel, an der lauter Modeschmuck hängt (bei Bedarf zu benutzen!). Leseratten können sich am Bücherregal bedienen, Fantasielose den kleinen Fernseher einschalten. Programmheft vorhanden.
    Während ich meine Sachen zusammensuchte und in den Koffer stopfte, rechnete ich nach, wie lange Irene und ich uns schon kannten. Fünf Jahrzehnte und noch ein bißchen darüber. Wir sind nämlich zusammen eingeschult worden.
    An diesen Tag kann ich mich noch recht gut erinnern. Zum erstenmal durfte ich den neuen dunkelblauen Rock mit passendem Bolerojäckchen und die ebenfalls neue weiße Bluse anziehen, und dann schlappte ich an der Seite meiner Großmutter mit reichlich gemischten Gefühlen in meinen künftigen Weisheitstempel. In einem Arm hielt ich die viel zu große Schultüte, die andere Hand hatte Omi umklammert, weil meine Schritte immer langsamer wurden, je mehr wir uns der Schule näherten.
    Normalerweise pflegen die Mütter ihre Sprößlinge auf ihrem ersten schweren Gang zu begleiten, doch wir hatten Krieg. Mein Vater marschierte siegend durch Frankreich, während meine Mutter im Besetzungsbüro der TOBIS in Babelsberg versuchte, bereits kriegsdienstverpflichtete Schauspieler für den nächsten Film freizustellen – was ihr auch meistens gelang, denn Kintopp war wichtig. Brot und Spiele hatten schon die alten Römer dem Volk versprochen, damit es von den Eroberungskriegen ein bißchen abgelenkt wurde. Na ja, und Brot kriegten wir damals auch noch genug, allerdings auf Marken.
    Schon auf dem Schulhof, wo wir uns allmählich sammelten, hielt Omi Ausschau nach potentiellen Freundinnen für mich. Ich war ja ein Einzelkind und als solches ziemlich schüchtern.
    »Guck mal, die Kleine da drüben mit den blonden Zöpfen sieht doch recht ansprechend aus«, sagte sie und pirschte sich näher an die Auserwählte heran. »Ihre Mutter macht auch einen sehr soliden Eindruck.«
    Den soliden Eindruck vermittelten zweifellos der Hut und die weißen Glacéhandschuhe, und bei der ansprechenden Kleinen dominierte die steif gestärkte Haarschleife, für Omi ein untrügliches Zeichen für häusliche Ordnung. Immerhin trug ich auch so einen Propeller auf dem Kopf und wußte, daß Omi die breiten Bänder nach dem Waschen immer erst durch Zuckerwasser zog und dann unter Seidenpapier bügelte, weil sie sonst am Eisen festgeklebt wären.
    Eine erste Kontaktaufnahme mit der soliden Mutter ergab allerdings, daß sie am entgegengesetzten Ende der Riemeisterstraße wohnte, also viel zu weit entfernt, um eine intensivere Beziehung aufzubauen. Ich wurde sowieso nicht gefragt.
    Das nächste von ihr angepeilte Objekt war ein schon recht großes Mädchen mit Kurzhaarfrisur, einer ebenfalls sorgfältig gebundenen Haarschleife und einer schmalbrüstigen Begleitperson, die einen gouvernantenhaften Eindruck machte. Es war auch eine! Nein, sie sei nicht die Mutter, teilte sie Omi kurz angebunden mit, die Eltern des Kindes, Herr und Frau von Rothenfelde (Oder so ähnlich) seien in diplomatischer Mission unterwegs, und überhaupt werde Irmgard demnächst im Ausland leben.
    Omi schluckte die Abfuhr mit einem liebenswürdigen Lächeln, flüsterte mir so was wie »paßt sowieso nicht zu uns« ins Ohr und gab weitere Annäherungsversuche auf, weil wir alle in die Aula gebeten wurden.
    Anschließend im Klassenzimmer wurden wir in alphabetischer Reihenfolge aufgerufen und mußten uns nacheinander in die Bänke setzen. »Nur für heute, später könnt ihr natürlich die Plätze tauschen«,
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