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Muss ich denn schon wieder verreisen?

Muss ich denn schon wieder verreisen?

Titel: Muss ich denn schon wieder verreisen?
Autoren: Evelyn Sanders
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versprach die Lehrerin, denn die ersten Tränen waren schon geflossen, weil Freundinnen getrennt worden waren.
    Neben mir schob sich ein dunkelhaariges Mädchen in die Bank. Es war mir schon in der Aula aufgefallen, weil es irgendwie aus dem Rahmen fiel. Es hatte nämlich leicht schräg stehende Augen, hohe Wangenknochen und sah überhaupt etwas fremdländisch aus. »Hier bleibe ich nicht sitzen«, wisperte es mir sofort zu, »morgen setze ich mich zu Anita, aber die fängt mit einem anderen Buchstaben an, deshalb muß sie erst mal nach hinten.«
    »Bist du von hier? Du siehst so anders aus.« Kinder pflegen selten besonders taktvoll zu sein.
    »Natürlich bin ich von hier!« kam es empört zurück. »Und wieso sehe ich anders aus?«
    »Weiß ich auch nicht. Eben anders.«
    »Du hast ja ’nen herrlichen Knall!«
    So begann meine Bekanntschaft mit Irene. Jahre später, als wir schon die Schulzeit hinter uns hatten, erwähnte sie einmal beiläufig, daß sie bereits im Säuglingsalter von ihren Eltern adoptiert worden sei und niemand etwas über ihre eigentliche Herkunft wisse. »Ich vermute einen mongolischen Ururgroßvater, der sich in seinem Zelt eine indische Sklavin gehalten hat. Oder umgekehrt, der Maharani hat ihr mongolischer Leibwächter gefallen. Bliebe nur die Frage zu klären, weshalb der illegitime Nachkomme nicht ersäuft worden, sondern auf rätselhafte Weise in Europa gelandet ist.«
    Jedenfalls hat Irene den unbekannten Vorfahren ihr apartes Aussehen zu verdanken.
    Zu meinem heimlichen Bedauern wurde sie damals noch nicht meine Freundin. Dabei bewunderte ich sie rückhaltlos. Im Gegensatz zu mir war sie überhaupt nicht schüchtern, gehörte schon bald zu den Beliebtesten in der Klasse – auch bei der Lehrerin –, war eine gute Schülerin und unschlagbar im Sportunterricht. Leider hing sie ständig mit Anita zusammen, die im Haus gegenüber wohnte und mit der sie schon im Sandkasten gespielt hatte.
    Das änderte sich erst, als wir ›kinderlandverschickt‹ wurden. Anita kam nach Bayern, weil sie dort Verwandte hatte, die nicht so Glücklichen wurden nach Ostpreußen verfrachtet und Pflegeeltern anvertraut. Ich landete auf einem kleinen Bauernhof, Irene bei einer alleinstehenden älteren Dame, die zwar lieb und nett, aber auch ziemlich langweilig war. Weit weg von zu Hause und zumindest anfangs noch mit einer gehörigen Portion Heimweh behaftet, schlossen wir Berliner uns natürlich enger zusammen, zumal uns die Dorfkinder zunächst mit scheelen Blicken ansahen und uns auslachten, wenn wir schreiend vor den frei herumlaufenden Gänsen mit ihren drohend gereckten Hälsen türmten. Den ostpreußischen Dialekt verstanden wir auch nicht. Lediglich in der Schule sammelten wir ein paar Pluspunkte, denn wir waren mit dem Unterrichtsstoff viel weiter und freuten uns immer auf die regelmäßigen Diktate, bei denen wir mit zwei oder drei Fehlern abschnitten, während die ›Dorfdeppen‹ bei einem Dutzend erst anfingen.
    Bevor die große Evakuierung in Ostpreußen begann, holte mich meine Mutter auf abenteuerliche Weise aus dem Hexenkessel heraus. Das Kriegsende erlebten wir einigermaßen unbeschadet in Berlin, und als sich die Verhältnisse wieder zu normalisieren begannen und die Amerikaner unseren Sektor übernommen hatten, traf ich eines Tages Irene in der Ladenstraße.
    Von da an sahen wir uns beinahe täglich; morgens in der Schule, denn die hatte wieder ihre Pforten geöffnet, nachmittags, wenn wir Schlange standen, sei es vor dem Bäcker, dem Metzger oder auch mal mit zwei Briketts unterm Arm beim Friseur zur ersten Dauerwelle. Anita kam aus ihrem bayrischen Asyl, Gerda, die vom Kriegsende in Thüringen überrascht worden war, stieß zu uns, und kurze Zeit später war auch Regina wieder da. Unsere ehemalige Clique war komplett. Von den anderen Mitschülerinnen wußten wir kaum etwas, zum Teil waren sie gar nicht nach Berlin zurückgekommen, zum Teil besuchten sie andere Schulen, und einige werden wohl den Krieg nicht überlebt haben.
    Da die meisten Schulgebäude in Berlin durch Bomben zerstört waren, mußten die erhaltenen von mehreren Schulen benutzt werden, was nicht nur weniger Stunden, sondern auch Schichtunterricht bedeutete – eine Woche vormittags, die nächste nachmittags. Bei uns hatte sich das Arndt-Gymnasium einquartiert, erstaunlicherweise eine Jungenschule, während wir eine Mädchenschule waren. Von Koedukation hielt man damals noch nicht so viel. Anhand der öfter mal an der Tafel
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