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Murray, Paul

Murray, Paul

Titel: Murray, Paul
Autoren: An Evening of Long Goodbyes
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Sterne.
    Und so war
ich ihr das erste Mal begegnet. An einem Sommertag, als ich mich aus
Langeweile in Bels Zimmer geschlichen und zum wiederholten Male erfolglos ihr
Tagebuch gesucht und stattdessen das neue Jahrbuch gefunden hatte. Ich saß auf
dem Bett und betrachtete die Garde zwölfjähriger Mädchen, bis mein Blick
plötzlich hängen blieb, mein Atem stockte und mein Lechzen von etwas Reinerem
verdrängt wurde, das so klar und vergeblich war wie ein Wunsch. Die Augen, der
Mund, die hinreißende Andeutung des Halses unter der Bluse der Schuluniform;
die Komposition der Locken, die - ob sie nun haselnussbraun oder blond waren,
war nicht zu erkennen - so wunderbar reglos auf den Schultern ruhten. Mit einem
merkwürdigen Gespür für den schicksalhaften Augenblick fuhr ich mit dem Finger
über die Namensreihe unten auf der Seite. Audrey
Courtenay, Bunty Chopin, Dubois Shaughnessy ... und dann: Laura, Laura Treston.
    Obwohl die
Mächte des Schicksals verhinderten, dass wir uns je trafen, so habe ich seitdem
doch ihren Werdegang in den Jahrbüchern verfolgt; jedes einzelne erschloss mir
eine neue Metamorphose. In den Kissenschlachten meiner Träume waren es mehr als
alles andere die polsterweichen Brüste, die bebten und widerhallten vom zarten,
dumpfen Aufprall der Federn. Noch heute, die Schulzeit seit Jahren vergangen
und sie weiß Gott wo, lebte sie wie ein Hologramm in meinem Herzen fort. Die
Patsy Oles dieser Welt kommen und gehen, aber das, da war ich mir sicher, das
würde sich als die große Liebe meines Lebens erweisen.
    Bel selbst
tauchte übrigens weder auf Klassenfotos noch auf irgendwelchen anderen Fotos
auf. Was ihr Aussehen anging, war sie immer heikel gewesen. Wenn die Fotos von
irgendeiner Familienfeier entwickelt waren, schnappte sie sich sie
unweigerlich als Erste, schaute sie zwanghaft durch, legte sie zwei Minuten
später zur Seite und sagte traurig: »Was, so sehe ich aus? Warum sagt mir das
denn keiner?« Ich habe nie verstanden, warum sie so ein Theater darum machte,
denn schon damals konnte jeder sehen, wie schön sie werden würde.
Offensichtlich entsprach das Mädchen auf den Fotos nie dem Mädchen, als das
sie sich in ihrer Vorstellung sah. Sie fing an, die Fotos zu hassen, die nie
verblassenden Augenblicke, deren objektive, unentrinnbare Wahrheit sie
einholen und quälen würde. Also beschloss sie im Alter von zwölf Jahren, sich
fortan nicht mehr fotografieren zu lassen. In der Schule fand sie immer Wege,
sich zu drücken. Zu den Fototerminen wartete sie mit immer verstiegeneren
Krankheiten auf. Die alten und tatterigen Nonnen, die sie als Lehrerinnen
hatte, fielen immer auf die angemalten Flecken, die Masern, Gelbfieber oder
irgendwelche Verletzungen vortäuschten, herein. Auf Familienfotos ist ihre
Rolle die der Lücke, die der unerklärlichen paar Zentimeter Mobiliar, die am
Rand eines Fotos neben Mutter, Vater oder mir zu sehen waren. Bis heute scheint
sie sich in der Sekunde, in der ein Fotoapparat auftaucht, in Luft aufzulösen.
    Vor
Aufregung konnte ich nicht wieder einschlafen. Eine Stunde lang lag ich
glücklich da und stellte mir mein neues Leben mit Laura vor. Aber mit
fortschreitender Nacht schwand die Aufregung, Zweifel plagten mich, ob sich
auch alles fügen würde. Plötzlich kam mir alles zu übersichtlich, zu leicht
vor. Hätte ich mich dem Abkommen verweigern sollen? Hatte ich Bel verraten und
verkauft? Und dann glaubte ich Geräusche zu hören. Ich konnte mir einfach nicht
einreden, dass nicht er das war, der da todbringend durch Flure und Gänge
strich und sich vergewisserte, ob auch alles schlief, bevor er sich an sein
verbrecherisches Werk machte.
    Ich
ärgerte mich über mich selbst. Trotzdem schlüpfte ich in meine Pantoffeln und
ging auf den Flur zum Treppenabsatz. Alles war ruhig - bis auf das ferne
Knarzen und Rumpeln des schlafenden Hauses und eine irgendwo vor sich
hintickende Uhr. Das Bad war leer, allerdings stieg mir ein ungewohnter Gestank
in die Nase. Ich zog in Mutters Schlafzimmer die Vorhänge zu und ging dann zu
Vaters Arbeitszimmer. An der Tür hielt ich inne: Den Knauf schon halb
umgedreht, überfielen mich die Erinnerungen, als hätten sie im Innern des
Metallgriffs nur auf mich gewartet. Erinnerungen aus der Zeit, bevor mein Vater
angefangen hatte, die Tür abzuschließen, als ich noch mit einem Glas Milch zu
ihm kam oder einer Schnecke oder meinen Hausaufgaben {In Norwegen
gibt es viele Fjorde, die Menschen dort haben nicht viel zu tun). Er
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