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Murray, Paul

Murray, Paul

Titel: Murray, Paul
Autoren: An Evening of Long Goodbyes
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die Fahne in
der Hand.«
    »Ja, aber
er hat nicht das ganze Leben gearbeitet, damit seine Kinder auch arbeiten
müssen«, parierte ich. »Und nebenbei bemerkt, ich verstehe nicht, worüber du
dich so aufregst.« Obwohl auf der Hand lag, dass Bel gnadenlos introspektiv war
und wahrscheinlich unter furchtbaren Schuldgefühlen wegen diesem Frank litt.
»Ich begreife nicht, warum ein paar freundlich gemeinte Ratschläge dich dazu
bringen, mich gleich zum Erbsenschälen zu schicken. Oder in so eine grässliche
Maschinenhalle, wo ich den ganzen Tag Deckel auf Marmeladengläser schrauben
muss. Am Fließband, dauernd der Krach der Maschinen und kein Stuhl, auf den ich
mich mal setzen kann, und die endlose Reihe glänzender Gläser schiebt sich
unerbittlich auf mich und mein kleines Deckelaufschraubgerät zu...«
    »Ich rede
von Verantwortungsbewusstein, Charles, davon, wie ein erwachsener Mensch zu
leben...«
    »Dein
Frank da, der arbeitet vermutlich?«
    Bel verstummte
mitten im Satz und zupfte am Träger ihres Kleides. »Er arbeitet, ja«, sagte sie
ausweichend.
    »Und?
Gehirnchirurg, Heißluftballonfahrer, dritte Geige...«
    Sie senkte
den Blick. »Er hat einen Lieferwagen«, sagte sie.
    »Einen Lieferwagen!«, rief ich aus und stieß triumphierend einen Finger in die Luft. »Einen Lieferwagen! Und, irgendeine Idee, was er in
diesem Lieferwagen herumfährt? Opium?
Elefantenstoßzähne? Gutwillige, aber fehlgeleitete junge Mädchen aus gut
situierten Familien?«
    »Das
spielt doch keine Rolle!«, sagte sie laut. »Herrgott, ich hätte wissen müssen,
dass man mit dir nicht vernünftig reden kann.«
    Draußen
übertönte das quengelige Quietschen der Wetterfahne das Heulen des Windes.
Seufzend setzte ich mich im Bett auf und schob die Manschetten meiner
Pyjamajacke zurück. Der Punkt war, dass ich sie diesmal nicht ausschließlich
ärgern wollte. Ich hatte tatsächlich das gespenstische Gefühl, dass sie mit
Frank eine Grenze überschritten hatte. »Bei«, sagte ich ernst. »Es tut mir
Leid, dass ich so grob war. Du bist erwachsen, du hast einen Collegeabschluss,
du kannst selbst entscheiden. Aber auch wenn ich keiner ehrbaren Arbeit in
einer Konservenfabrik nachgehe, so habe ich doch das eine oder andere im Leben
gesehen. Und dieser Frank...« Obwohl ich mir das Hirn zermarterte, um eine
diplomatischere, appetitlichere Formulierung zu finden, fiel mir keine ein.
Also holte ich tief Luft und sagte es einfach. »Ist dir eine Figur aus der
jüdischen Mythologie bekannt, die man Golem nennt?«
    Bel schaute
mich verdutzt, aber auch misstrauisch an.
    »Die
Legende besagt, dass der Golem ein vollständig aus Lehm bestehendes Wesen
ist... oder in bestimmten Fällen...«Ich konnte mir diesen Zusatz nicht
verkneifen, »... anscheinend auch aus Spachtelmasse...«
    »Jetzt
reicht's«, erklärte sie düster. »Das war's.«
    »Komm
zurück!«, rief ich verzweifelt und streckte die Arme nach ihr aus. »Um Himmels
willen, komm zurück. Das ist kein Witz, Bel. Was ich dir sagen will, könnte für
uns beide extrem wichtig sein.«
    Sie blieb
in der Tür stehen. Leicht nickend schaute sie mich mit ätzendem Blick an und
sagte kühl, ich solle fortfahren.
    Ich bin
kein von Natur aus abergläubischer Mensch, und am nächsten Tag fragte ich mich,
ob an meinen wilden, rüden Gedanken vom Vorabend die weißen Bohnen schuld
gewesen waren. Wenn ich jetzt darüber nachdenke, ist mir allerdings klar, dass
ich zumindest teilweise richtig lag: Franks Auftauchen markierte den Beginn
unseres Niedergangs - obwohl jeder Einzelne von uns viel dazu beigetragen hat.
»Der Golem kann nicht selbstständig denken«, sagte ich Bel. »Er ist ein
Roboter, der von mystischen Mächten beseelt wird - von übel wollenden, muss man
hinzufügen.«
    »Bitte,
Charles, es ist spät. Du willst mir also weismachen, dass du Frank nicht
deshalb ablehnst, weil du ein Snob und Soziopath bist, sondern weil er
irgendein mystisches Wesen ist, dass man geschickt hat, um mich zugrunde zu richten?
Gut, sonst noch was?«
    »Ich weiß,
dass sich das etwas daneben anhört«, sagte ich. »Aber ich weiß nicht, wie ich
dir dieses Gefühl, diese böse Vorahnung sonst erklären soll. Ich habe
buchstäblich, und das ist mir noch bei keinem von deinen Freunden passiert,
eine Gänsehaut bekommen.« Ich erschauerte bei der Vorstellung, wie der düstere,
klobige Frank seinen Lieferwagen durch dämmerige Vorstadtstraßen steuerte und
mit leeren, glühenden Augen den Ruf seines Meisters
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