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Multi Kulti Deutsch - wie Migration die deutsche Sprache verändert

Multi Kulti Deutsch - wie Migration die deutsche Sprache verändert

Titel: Multi Kulti Deutsch - wie Migration die deutsche Sprache verändert
Autoren: Uwe Hinrichs
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im Gespräch zuerst geäußert wird und dann später, quasi an zweiter Stelle, die ‹richtige› Variante ( eine r Behandlung , also Dativ) noch nachfolgt. Zuerst also das Neue, Markierte, darauf folgend das Gewohnte, Unmarkierte: Ich nenne dies später ‹das Prinzip new forms first ›. Oft kann man sogar beide Varianten im selben Zusammenhang hören, vielleicht in Sätzen wie diesem:
    â€“ Die Redaktion hat mit den Autor gesprochen und dann später noch mit einem weiteren Autoren Kontakt aufgenommen.
    Und schließlich: Relativ wenig können wir zur Zeit sagen über die gegenseitigen Abhängigkeiten, die ‹Interaktion› der neuen Züge: Wie hängt der Verfall der Kasus genau zusammen mit dem neuen Gebrauch von Präpositionen – wie kommt es also genau dazu, dass eine alte Form sich zurückzieht, einer mittleren Platz macht und schließlich eine neue favorisiert:
alt:
Die Teilnehmer übermittelten dem Veranstalter ihren Dank.
mittel:
Die Teilnehmer übermittelten den Veranstalter ihren Dank.
neu:
Die Teilnehmer übermittelten ihren Dank an den Veranstalter.
    Solche Dinge haben in vielen Sprachen bereits stattgefunden, im Englischen, Bulgarischen oder Persischen, allerdings schon vor vielen Jahrhunderten. Aber aus den Daten kann man ziemlich sicher ableiten, dass es eine solche Reihe gibt und der Output so gut wie immer eine neue Wendung mit Präposition ist.
Relativierungen
    Zu all dem kommt ein (sprach)politisches Faktum hinzu, das die Sache nicht einfacher macht: Wenn man sich mit den sozialen und geographischen Existenzformen des Deutschen befasst, dann stellt man schnell fest, dass hier der Spielraum für Relativierungen sehr groß ist, viel größer als im Englischen oder Russischen. Im Deutschen ist einer neoliberalen Tradition ohne weiteres Tür und Tor geöffnet, die sich jedoch oft eher als ein subtiles Hindernis erweist, als dass sie einen wirklich alternativen Blick auf die Dinge ermöglichte. Relativierende Argumente, mit denen Kontakte und Konflikte mit den Migrantensprachen wegretuschiert werden können, bieten sich (unglücklicherweise?) überall und schnell an: Nirgendwo gibt es so viele Dialekte wie in Deutschland mit all ihren Besonderheiten, die oft auch gern als Belege von Mangel oder Defizit auf Seiten der Deutschen selbst herhalten müssen. Klassiker sind die Verwechslung der Kasus ( Ick nehm’ dir inn Arm ) oder ein falsches Tempus ( Hertha war wieder jut jewesen , wa ) im Berlinischen; aber auch viele andere Dialekte wie Bayrisch oder Rheinisch sind wie ein Füllhorn der Abweichungen vom Standard-Deutschen (Henn-Memmesheimer 1985) vom Typ wir fahr’n im Urlaub; meinem Vater sein Hut oder ich war die Uhr am Reparieren . Dass der Hamburger Seemann den bayrischen Waldkauz eventuell nicht mehr verstehen kann (die Dialekte also maximal auseinander liegen), wird flugs als willkommener Beweis dafür gedreht, dass die Deutschen sich in ihrer Sprache ja schon untereinander nicht verstehen (als wie: was muss man da über Migrantendeutsch diskutieren !). Nicht zuletzt sorgen auch Bildungsferne und eine verbreitete Lese-Abstinenz, ausgelöst durch wachsenden Internet-Konsum, auch von deutschen Jugendlichen, dafür, dass sich reale Sprachmängel auch in die muttersprachliche Kompetenz einschleichen(und dann vom Migrantendeutsch ‹automatisch› weiter gestützt werden).
    Dass also überall leicht, ja mitunter leichtfertig relativiert werden kann, hat natürlich einen negativen Kontraeffekt: Die realen sprachlichen Probleme, die ja weiter existieren, können nicht erkannt, nicht präzise analysiert und nicht effektiv bekämpft oder gar gelöst werden; sie rumoren aber im Innern der Sprachpraxis unweigerlich weiter und erhöhen unter der Oberfläche ihren schädlichen Einfluss. Ein Beispiel für die schier unantastbare Macht der Political Correctness ist die jüngste Anhebung des sogenannten ‹Kiezdeutsch› auf die Stufe eines «neuen deutschen Dialektes» (Wiese 2012). Die unkritische Verklärung eines Großstadt-Pidgin mit absehbarer Halbwertzeit als kreatives Sprachlabor des Deutschen trägt unweigerlich bei zur Zementierung der sozialen wie der sprachlichen Probleme ganzer Bevölkerungsschichten – wie auch übrigens zum wachsenden Unmut in der Gesellschaft. Sie ist kontra-kreativ – auch deswegen, weil es die Optik von Experten und
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