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Multi Kulti Deutsch - wie Migration die deutsche Sprache verändert

Multi Kulti Deutsch - wie Migration die deutsche Sprache verändert

Titel: Multi Kulti Deutsch - wie Migration die deutsche Sprache verändert
Autoren: Uwe Hinrichs
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entscheidenden Ruck. Dazu gehört durchaus – und das mag besonders verwirrend sein –, dass ab und an doch einmal in einem Nebensatz, sozusagen zufällig, auf den Einfluss von Migrantensprachen hingewiesen wird: «Tatsächlich (…) ist der deutsch-monolinguale Alltag von der Anders- und Mehrsprachigkeit nicht unberührt geblieben. Damit meine ich (…) das hörbare und sichtbare Eindringen der Anders- und Mehrsprachigkeit in die Sphären der Mehrheitssprache » (Hinnenkamp, 2000, 143; kursiv U. H.). So Recht man Hinnenkamp hier sofort geben will: In der Linguistik ist man diesem Appell bisher nicht gefolgt; und die Beschreibung des ‹hörbaren Eindringens› hat bis jetzt nicht stattgefunden.
    Hier ein typisches Beispiel, das erahnen lässt, wie groß der Abstand zwischen den aktuellen Veränderungen und der nebenher laufenden Forschung noch immer sein mag: Das renommierte ‹Institut für Deutsche Sprache› (IfdS, Mannheim) präsentierte sichauf seiner Frühjahrstagung im März 2012 mit dem vielversprechenden Titel «Das Deutsch der Migranten». Unter Programmpunkt vier wollte man dies behandeln: «Wie verändert sich die deutsche Sprache unter dem Einfluss von Migration?» Ein Blick ins Programm belehrt den Interessenten dann aber darüber, dass dieser Punkt mitnichten eingelöst wird: Einige Beiträge befassen sich zwar exemplarisch mit den Sprechweisen von einigen Gruppen junger Türken und Russen in der Region (Mannheim), doch sucht man vergeblich nach Beiträgen oder Runden Tischen zum Deutsch der Migranten, zum Akzent, zur Mehrsprachigkeit und zum Einfluss auf die deutsche Umgangssprache .[ 1 ]
    Die Hauptquelle für die sprachlichen Beispiele in diesem Buch ist notgedrungen vor allem die eigene, über lange Jahre gefestigte Erfahrung und penible Beobachtung, die ständige, jahrzehntelange Praxis mit dem Migrantendeutsch und, daraus erwachsen, eine Art unbestechlicher Intuition. Das Korpus, das gesprochene Skript, existiert quasi bereits im Kopf, und das Risiko von Fehleinschätzungen wird eher gering sein, zumal bei einem, der seit Jahrzehnten die Entwicklung des gesprochenen Deutschen im Kontrast zu anderen gesprochenen Umgangssprachen (Russisch, Serbisch, Bulgarisch) verfolgt, analysiert und dokumentiert hat.[ 2 ] Ohne Intuition und ein deutliches Ausschlagen des inneren Pendels gibt es ohnehin keine vernünftige Daten-Präsentation (oder: sie schwingt im Leeren), und die Verantwortung für die Authentizität der Belegfälle kann in jedem einzelnen Falle voll und ganz übernommen werden.
Was ist zur Zeit noch nicht möglich?
    Einige Dinge können jedoch aufgrund des gegenwärtigen Forschungsstandes in diesem Buch nicht geleistet werden und sie sollten auch nicht erwartet werden:
    Es ist zur Zeit unmöglich, die Veränderungen im einzelnen und den sich daraus ergebenden Entwicklungstrend des Deutschen wirklich schlüssig zu beweisen – jedenfalls nach dem gängigen Muster der europäischen Wissenschaften, d.h. über Hypothesen, Empirie und Experiment, Verifizierung etc.
    Es können, zweitens, keine hieb- und stichfesten statistischen Daten zu den sprachlichen Fakten geliefert werden, wie siesich vielleicht aus Feldforschungen, Fragebogen-Aktionen oder Sprachtests ergeben würden.[ 3 ]
    Es kann (noch) keine linguistische Feinanalyse erfolgen, die wirklich erschöpfend wäre und die schon Licht bringen würde in den kommunikativen und psychischen Hintergrund, der die Phänomene erzeugt. Es kann – um ein Beispiel zu nehmen – mangels einschlägiger Forschungen nicht endgültig ermittelt werden, unter welchen Bedingungen der Kasus Dativ am ehesten geschwächt und ersetzt wird, wann z.B. am schnellsten zu dem Muster « Er musste sich eine_ (statt ∗einer ) Behandlung unterziehen » gegriffen wird. Gesichert ist hier nur, dass es zur Zeit in vielen Kategorien der deutschen Grammatik eine steigende Zahl von Varianten gibt und dass diese Varianten in Konkurrenz stehen und sich ihre Abgrenzungen immer mehr verwischen. Es gibt keine eindeutige, einziggültige Norm mehr und das Norm-Bewusstsein als solches ist deutlich gelockert.
    Was es aber gibt, sind einige Indizien, die sich auf hundertfache Beobachtung stützen: Oft kann man im gesprochenen Deutschen feststellen, dass die ‹falsche› Variante (im Beispiel oben: eine Behandlung , also Akkusativ)
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