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Mucksmäuschentot

Mucksmäuschentot

Titel: Mucksmäuschentot
Autoren: Gordon Reece
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Hausaufgaben zu besprechen. Ich war in Englisch und Kunst immer die Klassenbeste; Emma (Spitzname »Pippi Potter« wegen ihres leuchtend roten Haares und der runden Brille) schien ein Talent für Mathe zu haben; Jane, die Ernsthafteste von uns vieren, spielte im Schulorchester und einem weiteren Ensemble Cello; und Teresa mit den schönen Augen und dem rötlich-blonden Haar war ganz wild auf Theater und wollte Schauspielerin werden. Im Unterricht schwatzten wir wie alle Kinder, hatten aber Angst vor den Lehrern; wir hätten es im Traum nicht gewagt, Widerworte zu geben, und ich kann mich nicht erinnern, dass eine von uns jemals ernsthafte Schwierigkeiten gehabt hätte.
    Mit vierzehn begannen sich die anderen zu verändern. Ich nicht.
    Emma tauschte die Brille gegen Kontaktlinsen und ließ sich ihr schönes Haar zu einer Punkfrisur schneiden – über den Ohren rasiert, auf dem Kopf einen Kamm aus flammendroten Stacheln. Jane gab die Musik auf und schien sich auch nicht mehr für die Schule zu interessieren. Sie färbte Haare und Fingernägel schwarz. Sie wurde dick und bekam große Brüste und wäre ohne weiteres für achtzehn durchgegangen. Jane hatte ständig Probleme mit den Lehrern, aber kein Nachsitzen und keine Strafarbeit schienen ihr etwas auszumachen. Es war, als lehnte sie alles ab, was mit Schule zu tun hatte, und zählte wie eine Strafgefangene nur noch die Tage bis zu ihrer Freilassung.
    Am meisten aber veränderte sich Teresa Watson. Sie wurde praktisch über Nacht eins fünfundsiebzig groß. Ihr hübsches, rundliches Gesicht wirkte jetzt schmal und mürrisch. Ihr Körper wurde schlank, knochig und hart, das Gesicht ausgemergelt, mit vorspringenden Wangenknochen. Sie trug provokante Kleidung, die den Schulregeln widersprach – grüne Springerstiefel von Doc Martens, Hüftjeans und bauchfreie, hauchdünne Tops. In der linken Augenbraue steckte ein silbernes Piercing, obwohl der Direktor ihr mehrfach gesagt hatte, sie dürfe es nicht in der Schule tragen. Ihr langes Haar war in der Mitte gescheitelt und flach an den Kopf gedrückt. Und während ihr Körper diese harte Magerkeit annahm, trat auch eine neue, unnachgiebige Härte in ihre grünen Augen. Eine unterschwellige Drohung.
    Im Nachhinein habe ich begriffen, dass sich mit ihrem Aussehen auch ihr Verhalten mir gegenüber veränderte. Und ich habe mich gefragt, ob es eine Verbindung gab. Beeinflusst das Aussehen die Persönlichkeit? Oder die Persönlichkeit unser Aussehen? Macht die Kriegsbemalung den Stammesangehörigen zu einem wilden Krieger? Oder trägt der wilde Krieger die Farbe nur auf, um seine Grausamkeit zu betonen? Sieht eine Katze immer wie eine Katze aus? Eine Maus immer wie eine Maus?
    Was immer die Wahrheit sein mag, ich veränderte mich nicht. Ich war nach wie vor fleißig, paukte für Klassenarbeiten und malte meine Landkarten bunt an. Ich war immer noch Klassenbeste in Englisch und Kunst, nun aber auch in Geschichte, Französisch und Erdkunde. Ich zuckte noch immer zusammen, wenn ein Lehrer in der Klasse losbrüllte. Ich trug mein Haar, wie ich es seit meinem neunten Lebensjahr getragen hatte – glatt, schulterlang, mit Pony. Ich wurde ein bisschen größer, verlor aber nicht den Babyspeck. Ich hatte noch immer Röllchen am Bauch, und meine Oberschenkel rieben beim Gehen aneinander. Ich trug kein Make-up zur Schule, wie die anderen es taten, denn Mum sagte, es sei schlecht für die Haut. Als ich Pickel bekam, ließ ich sie in Ruhe (Mum sagte, vom Ausdrücken bekäme man Narben), während die anderen Mädchen ihre mit scharfen, lackierten Nägeln ausquetschten und die winzigen Wunden mit Abdeckstift verbargen. Ich trug keine Ohrringe, Ketten, Armbänder und Ringe, da ich gegen alles außer Gold allergisch war. Eigentlich mochte ich auch keinen Schmuck – er störte nur, und ich hatte Angst, ihn zu verlieren. Ich trug die gleichen schlichten Blusen, Pullover und Röcke zur Schule wie immer, die gleichen klobigen Schuhe mit den Schnallen an der Seite (die Teresa als »Sanitätshausschuhe« bezeichnete), während die anderen immer besessener von Kleidung und Aussehen wurden.
    Mir fiel auf, dass sie sich nicht mehr zu freuen schienen, wenn ich auf dem Schulhof oder in der Mensa zu ihnen kam. Es herrschte eine andere Atmosphäre, als amüsierten sie sich über einen Witz, den ich nicht verstand. Sie betrachteten mich mit leichtem Abscheu, und zum ersten Mal war mir mein Aussehen nicht mehr egal. Ich schämte mich für das Fett, das
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