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Mottentanz

Mottentanz

Titel: Mottentanz
Autoren: Lynn Weingarten
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Ich habe so lange auf das hier gewartet, auf diese Geschichte, auf diesen Moment, und ich will ihr erzählen, dass es mir leidtut, dass ich ihre Gründe zur Flucht jemals angezweifelt habe, dass ich ihr nicht vertraut habe, und für alles, was sie durchgemacht hat. Aber als sich unsere Blicke treffen, lächelt sie nur, dieses bittersüße Lächeln, traurig und weise, und ich weiß, dass ich überhaupt nichts sagen muss, weil ich in diesem Moment sagen kann, dass sie es bereits weiß. Und ich weiß etwas anderes auch mit Sicherheit, nämlich dass diese Nina, der Mensch, der neben mir sitzt, die Schwester ist, mit der ich aufgewachsen bin, aber nicht ganz derselbe Mensch, der sie war, als sie ging. Andererseits, das bin ich auch nicht.
    »Hey, Belly«, sagt Nina. »Ich will immer noch deine ganze Geschichte hören, weißt du. Ich glaube, es ist eine ganze Menge passiert, was ich auch nicht verstehe.« Und dann hält sie inne und lächelt. »Aber ich nehme an, dafür ist später noch jede Menge Zeit.«
    »Jede Menge Zeit«, wiederhole ich. Und ich muss auch lächeln.
    Dann wendet sich Nina wieder ihrer Zeichnung zu und ich sehe wieder aus dem Fenster. Bald werden wir zu Hause sein.

Kapitel 44

    Ich sehe sie, bevor sie uns sieht, meine Mom, sie steht bei der Gepäckausgabe und hält zwei Sträuße gelber Blumen.
    Nina entdeckt sie eine Sekunde früher als ich. »Das ist sie«, flüstert sie. Und dann fängt sie an zu rennen.
    »Mom!«, ruft sie. »MOM! MOM! MOOOOOOM!«
    Unsere Mutter dreht sich um, als sie Ninas Stimme hört, und dann strahlt sie über das ganze Gesicht. Und sie steht einfach nur da mit diesem hellen ärmellosen Kleid und Make-up und den kleinen goldenen Ohrringen, die Nina und ich ihr vor etwa zehn Jahren zum Muttertag geschenkt haben. Das ist das erste Mal seit ich weiß nicht wie lange, dass ich sie in etwas anderem sehe als in einer Krankenschwesterkluft oder in Bademantel und Schlafanzug. Sie sieht wunderschön aus.
    Als Nina sie erreicht, werfen beide die Arme umeinander und sie drücken sich und weinen und lachen, und als ich bei ihnen bin, gerate auch ich in die Umarmungen. Aus dem Augenwinkel sehe ich, dass jeder, der an uns vorübergeht, uns ansieht und lächelt. Ich glaube, wenn wir wollten, könnten wir jeden einzelnen Passanten, einen nach dem anderen, ergreifen und in unser Gruppenkuscheln ziehen, bis der gesamte
Flughafen unser Glück teilt. Solch eine Kraft besitzt ein Moment wie dieser.
    Schließlich, nach sehr langer Zeit, lassen wir uns los und stehen immer noch dicht zusammengedrängt in der kühlen Flughafenluft. Ninas Augen zwinkern auf genau die gleiche Weise, wie sie meiner Erinnerung nach zwinkerten, bevor sie verschwand. Und meine Mom sieht uns einfach nur an, sie blickt so sanft und zufrieden und stolz, als wäre die Zeichnung an Ninas Wand ein Porträt von ihr genau in diesem Moment. Und dann schaut sie hinunter auf ihre Hände, als hätte sie eben erst begriffen, dass sie noch immer die gelben Blumensträuße darin hält, die nun durch die Heftigkeit unserer Umarmungen komplett platt gedrückt sind. Sie stößt sie nach vorne in unsere Richtung. Die letzten Blütenblätter segeln zu Boden.
    »Ihr habt beide Hausarrest«, sagt sie. Und wir brechen alle drei in Gelächter aus.

Kapitel 45

    Heute vor einer Woche hat alles begonnen. Genau vor einer Woche hatte ich mit einer Tüte zerbrochener Kekse Mon Cœur verlassen und war nur zehn Minuten von dem Zeitpunkt entfernt, an dem ich Ninas Zeichnungen fand, und etwa vier Stunden später ging ich zu einer Party im Mothership und ungefähr sieben Stunden später lehnte ich an einer Wand und traf einen, wie ich annahm, freundlichen Unbekannten mit einer Maske. Vor einer Woche hätte ich mir die verrückten Dinge, die mir passiert sind, nicht einmal vorstellen können. Doch nun, da ich hier draußen auf einem Gartenstuhl auf dem Gehweg vor dem Mon Cœur sitze, weiß ich, dass ich, selbst wenn ich es könnte, nicht einen einzigen Moment der letzten Woche ändern würde. Denn wenn es irgendwie anders gelaufen wäre, wären die Dinge nicht genau so, wie sie jetzt sind.
    »Es kann nicht mehr lange dauern«, meint Brad. Er schielt auf seine Uhr. »Das Feuerwerk fängt für gewöhnlich zehn Minuten nach Sonnenuntergang an.«
    » Du fängst für gewöhnlich zehn Minuten nach Sonnenuntergang an«, sagt Thomas und knufft ihn in die Seite.
    Brad grinst. »Ich habe keinen Schimmer, was du meinst,
Herzblatt, aber du bist zu süß, als dass du
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