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Mottentanz

Mottentanz

Titel: Mottentanz
Autoren: Lynn Weingarten
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unserem gemeinsamen Leben als Heranwachsende – der Park, in dem wir öfter spielten, das Haus unserer Tante am Strand, sogar ein kleines Bild von dem Kerl aus der Covered-Wagon-Shipping-Werbung. Und rechts in der Mitte ist ein eingerahmtes Porträt unserer Mutter. Auf dem Bild sieht sie anders aus, als ich sie im Kopf habe, sanft und zufrieden und stolz, als wäre es das, woran sich Nina erinnert, wenn sie an unsere Mutter denkt.
    Ich schaue wieder zu Nina, die direkt vor mir steht. Es hat zwei Jahre und zweitausend Meilen gebraucht, aber endlich bin ich bei ihr. Ihre Unterlippe zittert. Meine zittert ebenfalls.
    Wir rennen aufeinander zu, Nina und ich, und kollidieren in einer festen Umarmung, einer Umarmung, die sich anfühlt wie jede der Tausenden und Abertausenden anderen Umarmungen, die wir die letzten sechzehn Jahre miteinander teilten, aber auch ganz anders wegen alldem, was es brauchte, um hierher zu gelangen, ganz anders, weil wir uns um ein Haar nie wieder umarmt hätten. Keine von uns beiden sagt etwas, weil es für einen Moment wie diesen keine Worte gibt. Wir stehen einfach nur da und umarmen uns, bis die Tränen über unsere Gesichter fließen.

Kapitel 42

    Was als Nächstes passiert, ist unklar, aber es gibt ein paar ganz bestimmte Details, die ich mit Sicherheit niemals vergessen werde: den herben Menschengeruch auf dem Rücksitz des Polizeiautos – ein Mix aus dem Angstschweiß von Hunderten von Leuten –, den Klang der Stimme meiner Mutter am Telefon, als sie sie von der Polizeistation aus anrufen und ich hören kann, dass sie weint, das Summen der hellen Neonröhren in dem Raum, in dem ich Detective Bryant geschlagene vier Stunden lang erzähle, was alles in den letzten fünf Tagen, seit ich Sean getroffen hatte, geschehen ist. Doch mehr als alles andere weiß ich, dass ich nie Ninas Gesichtsausdruck vergessen werde, als Detectice Bryant in das Wartezimmer kam, in dem Nina und ich auf zerschrammten Holztstühlen saßen, und uns erzählte, dass Sean gestanden hatte. Alles. »Wir haben ihn kaum befragt«, sagt Detective Bryant. Er schüttelt den Kopf. »So was passiert manchmal.« Und Nina dreht sich zu mir um, ihre Lippen sind aufeinandergepresst, ihre Augen füllen sich mit Tränen, ihr ganzes Gesicht ist verzerrt von purer Erleichterung, ich weiß, ich kann mir nicht im Ansatz die Hölle vorstellen, die dem vorausgegangen ist.

    »Es ist vorbei«, flüstert Nina. »Es ist endlich vorbei.« Und sie drückt meine Hand.
    »Ich bringe euch jetzt nach Hause«, sagt Detective Bryant.
    Wir stehen auf und gehen nach draußen. Das klare frühmorgendliche Sonnenlicht scheint uns ins Gesicht. Ich kann jetzt schon sagen, dass es ein schöner Tag werden wird.

Kapitel 43

    Alles hinter dem Fenster wird kleiner, als wir abheben, Häuser, Autos, Menschen, Berge. Meine Ohren platzen, ich presse mein Gesicht gegen das Glas.
    »Warte, warte, warte, Belly«, sagt Nina. »Nur für eeeeeine weitere Sekunde nicht bewegen…« Sie hält den Kugelschreiber an ihre Lippen und führt die Spitze dann wieder zu der Serviette, auf die sie zeichnet. »Dein Gesicht ist kantiger als damals, als ich dich das letzte Mal zeichnete.« Sie hält den Stift wieder an die Lippen. »Du hast mehr Wangenknochen.«
    Ich lächle. »Vielleicht«, sage ich. Ich blicke auf die Serviette, auf die sie die Umrisse meines Gesichts zeichnet.
    »Nein, ganz bestimmt«, sagt sie. »Du siehst älter aus.«
    »Nun ja… das kommt in den besten Familien vor, nehme ich an.« Ich versuche, einen leichten und spaßigen Ton anzuschlagen, aber es kommt anders raus. Das Problem ist: Nach zwei Jahren des Sich-Sorgen-Machens weiß mein Gehirn nicht wirklich, wie man das wieder abstellt. Ich sage mir immer wieder, dass nun, da Nina in Sicherheit ist und ich sie wiedersehen kann, nichts sonst von Bedeutung ist. Jedenfalls sollte nichts sonst von Bedeutung sein. Aber ich schätze, was wir uns einreden wollen und was wir tief in unserem
Innern wirklich glauben, dass sind zwei völlig verschiedene Dinge.
    »Ich kann nicht glauben, dass Mom sich den Tag freinimmt, nur um uns vom Flughafen abzuholen«, sagt Nina. Aus dem Augenwinkel kann ich sehen, dass sie langsam den Kopf schüttelt. Sie schaut mich an, runter auf ihre Serviette, dann wieder auf mich. »Ich meine, wann ist das schon jemals vorgekommen?« Sie lächelt. Ich sage nichts.
    Die ungestellten Frage liegen schwer in meinem Mund wie Murmeln, und alles, was ich von mir gebe, muss sich mühsam seinen Weg
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