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Mortimer & Miss Molly

Mortimer & Miss Molly

Titel: Mortimer & Miss Molly
Autoren: Peter Heinisch
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Haus, so gut es zum Renaissancegarten passt, den Gärten genau genommen, den so genannten Horti Valentini ... Dieses Haus ist, jedenfalls in seiner gegenwärtigen Form, verhältnismäßig neu, auch wenn man ihm das nicht gleich ansieht.
    Das Haus, in dem Miss Molly bis zu ihrem Tod im Jahr 1965 wohnte ... Sein romantisches Erscheinungsbild und seinen erstaunlich guten Zustand verdankt es sehr nüchternen Tatsachen ... Einem Schachzug oder Trick der ehemaligen Besitzer des Gartens, der sehr adeligen und einflussreichen Familie Bianchi ... Der bei allem Adel und bei allem Einfluss die Enteignung des Gartens schon 1918 drohte, bald nach dem Ersten Weltkrieg.
    Da war die Gemeinde San Vito auf einmal rot. Wie übrigens beinahe alle Gemeinden in der Region. Für das Desaster des Krieges machten die einfachen Leute die Besitzenden verantwortlich, in einer hoffentlich besseren Zukunft wollten sie es anders haben. Ein verständlicher Wunsch. Aber aus der Sicht einer Familie wie der Bianchis eine Bedrohung.
    Toscana rossa
. Für kurze Zeit sah es wirklich so aus, als müsste man sich darauf einstellen. Aber noch war nicht aller Tage Abend. Und es gab Gott sei Dank noch bürgerliche Gesetze. Und es gab noch Juristen, die damit umzugehen wussten.
    Zum Beispiel den mit allen juristischen Wassern gewaschenen Signore Belpulito, den Anwalt, der den Bianchis schon vor dem Krieg ein verlässlicher Freund und Helfer gewesen war. Melden Sie Eigenbedarf an, riet er, Eigenbedarf für ein Objekt im
giardino
. Zum Beispiel für dieses Haus in der Mauer, genau. Lassen Sie dieses hübsche Häuschen ein bisschen renovieren und setzen Sie eine für die Familie unentbehrliche Person hinein.
    Also quartierte man die Gouvernante dort ein. Und blockierte die Sozialisierung der Gärten. Sollte die Gemeinde das juristisch anzufechten versuchen, so würde man das Verfahren in die Länge ziehen. Das erübrigte sich dann: 1922 marschierten Mussolinis Schwarzhemden auf Rom, 1924 wurde Matteotti ermordet, 1926 gab es auch im verstecktesten Winkel Italiens keinen roten Bürgermeister mehr.
    Miss Molly kann nichts dafür, sie war nur die Gouvernante. Davor war sie ein Jahr als Englischlehrerin an einer Privatschule in Siena tätig. Wo sie der Marchese Bianchi, heißt es, entdeckte und vom Fleck weg engagierte. Das heißt wahrscheinlich, dass er sie einfach abwarb.
    Die dortige Schulleitung musste sich mitten im Jahr eine andere Englischlehrerin suchen. Aber er war eben der Marchese Bianchi. Er machte ihr ein Angebot. Er nahm sie mit nach San Vito und stellte sie seiner Frau und seinen Töchtern vor. Er zeigte ihr das Haus im Garten, das noch eingerüstet, aber fast schon bezugsfertig dastand.
    Konnte Miss Molly da nein sagen? Natürlich konnte sie das nicht. Denn es war Liebe auf den ersten Blick. Zu diesem Haus wohlgemerkt. Und zu dem Garten, der es umgab. Von dem Spiel, in dem sie bei aller Freundlichkeit ihres neuen Dienstgebers benutzt wurde, durchschaute sie wahrscheinlich nicht viel.
    Wenn es stimmt, dass sie schon vor 1922 da war, mit, sagen wir, einundzwanzig, so muss sie 1944, als Mortimer für sie vom Himmel fiel, schon Mitte vierzig gewesen sein. Aber solche Berechnungen stellten Marco und Julia erst später an. Vorläufig wussten sie ja von ihr ebenso wenig wie von Mortimer, vorläufig hatten sie noch nicht die leiseste Ahnung von der Geschichte, die sie dann so nachhaltig beschäftigen sollte. Sie taten die ersten Schritte auf den Spuren dieser Geschichte, aber das wussten sie noch nicht.
    Ein paar von diesen Schritten sind fotografisch dokumentiert: Julia unter den Wildkirschen – mit diesem Foto ist der Bann, die Hemmung, die einen Moment lang auf Marco gelegen ist, gebrochen. Julia neben dem Januskopf – das ist die Büste am Fuß der Treppe, die in den oberen Teil des Gartens führt. Janus, der Doppelgesichtige – ein junges Gesicht und ein altes Gesicht.
    Julia hat leicht lachen, sie ist damals noch sehr jung, noch nicht fünfundzwanzig. Auf der Treppe sitzend wirkt sie allerdings schon ein bisschen nachdenklich. Vielleicht fällt ihr da ein, dass sie noch nicht gefrühstückt haben. Wenn sie diese Fotos später ansehen, werden sie und Marco einiges hineininterpretieren.
    Die nächsten Fotos sind dann bereits im oberen Teil des Gartens aufgenommen. Marco (von Julia fotografiert), wie er auf den Trümmern des Turms herumklettert. Auch er noch recht jung, in dieser Situation hat er trotz seiner zweiunddreißig Jahre etwas Bubenhaftes.
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