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Mortimer & Miss Molly

Mortimer & Miss Molly

Titel: Mortimer & Miss Molly
Autoren: Peter Heinisch
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nüchterne, gerüsthafte Turmspitze, allerdings gekrönt von einem blechernen Wetterengel, der seinen rostig-rustikalen Charme hatte), bald würden die frei hängenden Glocken dieser Kirche Mittag läuten. Höchste Zeit also, trotz allem im Ansatz bereits spürbaren Magnetismus, der hier wirkte: Sie hatten noch immer nicht gefrühstückt.
    Also legten sie den Weg vom oberen Teil des Gartens, vom Steintisch, in den unteren Teil im Laufschritt zurück. Nicht über die Treppe, sondern auf einem durchs Gebüsch führenden Pfad. Und schon waren sie wieder beim Januskopf, dessen altes Gesicht in die Vergangenheit, dessen junges Gesicht aber in die Zukunft schaute. Und dann beim Haus in der Mauer, in dem Miss Molly schon längst nicht mehr wohnte.
    Dort nahm Marco Julia kurz auf die Schultern, damit sei ein paar von den wilden Kirschen pflücken konnte, die von den Vögeln noch nicht gefressen waren. Davon gibt es leider kein Foto, aber es ist ein Bild, das sich beide immer wieder gern in Erinnerung riefen. Marco mit Julia auf den Schultern, Julia, wie sie sich nach den Weichseln streckt. Allerdings war bereits Juli, und die meisten waren schon ziemlich vertrocknet.
    Dann aber (endlich) das Frühstück im
Caffè Italiano
. Das war die Bar, die sie gestern übersehen hatten. Etwas, das ihnen künftig nicht mehr passierte. Denn von da an gingen sie fast jeden Tag dorthin frühstücken.
    Täglich außer Montag, denn da hielten Pietro und Bruna ihren Ruhetag. Pietro und Bruna, das waren die Pächter des Lokals. Er um die sechzig, sie vielleicht um die fünfzig. Das kam Marco und Julia damals sehr alt vor.
    Aber auf sympathische Weise alt. Zwei, so der Eindruck, in Harmonie miteinander älter gewordene Leute. Obwohl sie sich, was die Statur betrifft, unterschieden (er hager und relativ groß, ein wenig gebeugt, sie mindestens einen Kopf kleiner, zu jener Zeit auch noch etwas runder), sahen sie einander ähnlich. Das war allerdings keine Ähnlichkeit der Züge, sondern eine Ähnlichkeit des Ausdrucks, und dieser Ausdruck war der einer etwas schüchternen Freundlichkeit.
    Und schön war die merkbare Nähe zwischen den beiden. Manchmal standen sie Hand in Hand vor der Tür des Lokals unter dem grün und weiß gestreiften Sonnendach. Marco taufte sie spontan Philemon und Baucis. Zugegeben, Julia war nicht ganz so beschlagen in der griechischen Mythologie wie er, der anscheinend ein klassisches Gymnasium besucht hatte, aber eine vage Erinnerung an diese Namen hatte sie doch. Er half dieser Erinnerung auf die Sprünge.
    Also Philemon und Baucis, sagte er. Das ist doch das alte Ehepaar, das keinen größeren Wunsch hat, als auch durch den Tod nicht geschieden zu werden. Und da kommen zufällig Zeus und Hermes vorbei und sind gerührt vom innigen Anblick der beiden, und außerdem sind sie angetan von ihrer Gastfreundschaft. Und aus Dankbarkeit verwandeln sie die zwei in ein Paar eng beisammen stehender Bäume, eine Eiche und eine Linde, wenn ich mich recht erinnere, die einander mit ihren Zweigen umarmen.
    So erzählte das Marco und lächelte dazu. Unter dem Bart hatte er hübsche Lippen und schöne Zähne.
    Aber im Ernst, sagte Julia. Glaubst du, dass es so etwas gibt? Ich meine, in Wirklichkeit. Eine so haltbare Liebe?
    Sie hatte das unwillkürlich auf Deutsch gesagt.
    Pardon?, sagte Marco.
    Sie versuchte es also auf Französisch.
    Eine so haltbare Liebe ...
Un amour tellement durable?
... Oder vielleicht besser:
Un amour tellement résistant
.
    Ja, dachte sie, das ist das richtige Wort. Dabei ging ihr zum ersten Mal auf, dass Liebe vielleicht etwas mit Widerstand zu tun hatte. Mit Widerstand gegen alle widrigen Umstände. Und letzten Endes mit Widerstand gegen die Zeit.
    Doch was dachte sie da? Wieso kam sie auf solche Gedanken? Die Beziehung zu Marco war doch wahrscheinlich nichts als eine Sommerliebe. Gut, um sich Hans aus dem Kopf zu schlagen, und überhaupt gut. Rundum gut, um ehrlich zu sein. Aber so was hat sein Ablaufdatum.
    Jetzt war es allerdings schön, und das wollte sie genießen. Sie saß mit diesem Marco, den sie erst seit kurzem kannte, aber lieber ansah, reden hörte, berührte, roch und schmeckte als Hans und die zwei, drei anderen, die sie länger gekannt hatte, im kleinen Hinterhofgarten des
Caffè Italiano
. Und sie hatten Cappuccino getrunken und Crostini gegessen, die damals noch frisch angeröstete, pikant bestrichene Brotscheibchen waren (keine, die schon seit Stunden oder gar Tagen in der Vitrine
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