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Morgengrauen

Morgengrauen

Titel: Morgengrauen
Autoren: Stefan Ummenhofer , Alexander Rieckhoff
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ungeduldig murmelnd auf den Einlass warteten. Einige sahen sie abschätzig an. Es war dieselbe Besetzung wie jeden Morgen. Ein ganz Voreiliger rüttelte am Gitter wie einst Gerhard Schröder – der Legende nach – vor einigen Jahrzehnten an dem des Kanzleramts. Herr Keller, ein schüchterner, freundlicher älterer Mann, stand etwas abseits. Er faltete gerade seinen Schwarzwälder Kurier zusammen und klemmte ihn sich unter die Achseln. Und obwohl er jeden Morgen der Erste war, begab er sich auch heute wieder ans Ende der Menschentraube. Herr Keller war eine Ausnahme in der rauen Frühschwimmerwelt.
    Wenigstens Willy, der langhaarige Schwimmmeister mit üppigem Dreitagebart und markanter langer Nase, wusste Kellers Freundlichkeit zu schätzen. Jeden Morgen bedankte er sich mit einem Lächeln für die Zeitung, die Keller den Bademeistern schenkte – manchmal brachte er ihnen sogar ein Frühstücksbrötchen mit.
    »S’isch scho längscht halbe siebene, und s’ Tor isch immer no zue«, beschwerte sich ein anderer Frühschwimmer mit unverkennbar alemannischem Zungenschlag, ein weißhaariger Herr um die siebzig, der den morgendlichen Frühsport kaum erwarten konnte.
    »Immer mit der Ruhe, die Herrschaften«, beschwichtigte Willy und schlappte unbeeindruckt gemütlich in Richtung Kassenhäuschen, um das Gittertor zu öffnen.
    Dann endlich fiel der Frühschwimmerschwarm ins Kneippbad ein wie Schnäppchenjäger beim Schlussverkauf. Die meisten aus der Gruppe von Individualisten hasteten direkt zur Umkleidekabine, ohne den Schwimmmeister auch nur eines Blickes zu würdigen. Verena hielt kurz inne und genoss für einen Moment die Atmosphäre. So viel Zeit musste trotz der Hektik sein.
    Wie jeden Morgen hatte sich ein sanfter Nebelschleier über das Kneippbad gelegt. Es sah aus wie in einem Stillleben. Das dreiundzwanzig Grad warme Badewasser und die nur wenige Meter entfernt vorbeifließende Brigach hatten die kühle Nacht hindurch Dampf erzeugt. Auch heftige Gewitterschauer hatten dazu beigetragen. Zwar kämpfte die tief stehende Sonne bereits gegen die Nebelschwaden an, doch noch war die Anlage nur schemenhaft zu erkennen. Für Verena waren diese Momente fast meditativer Natur.
    Ehe sie die Umkleiden betrat, kamen schon die ersten Frühschwimmer herausgestürmt. Zwei von ihnen hatten sich sogar in Neoprenanzüge gezwängt. Als Verena endlich ihren Badeanzug übergestreift hatte, hörte sie den schrillen Schrei einer Frau: Sie wusste, dass es zu den Ritualen einer der Frühschwimmerinnen gehörte, sich mit einem lauten Juchzer ins Wasser zu stürzen.
    Als Verena am Becken angelangt war, spritzten bereits überall Wasserfontänen auf, waren schnaufende Geräusche zu vernehmen – nicht nur das Geschnatter eines Entenpärchens, das sich unter die Frühschwimmer gemischt hatte, sondern auch das zweier Damen mit rosa Rüschen auf den Badehauben. Sonst sah man relativ wenig. Der Nebel lag dicht über dem Wasser, es sah fast aus wie in einem Thermalbad. Dass die Enten offenbar völlig unbeeindruckt von den um sich schlagenden Schwimmern weiter ihre Bahnen zogen, machte Verena Hoffnung: Auch sie würde sich ihren Platz im Becken erkämpfen können.
    Ihre ersten Schwimmzüge an diesem Morgen glichen allerdings eher einem Spießrutenlauf, obwohl sie sich gleich abseits auf Bahn 8 verzogen hatte. Ein bulliger Typ mit stark behaartem Oberkörper und getönter Schwimmbrille raunzte sie an, versetzte ihr beim Vorbeischwimmen gar ein paar Tritte.
    Die würden bestimmt blaue Flecken an den Oberschenkeln nach sich ziehen, dachte sie.
    Also versuchte sie es im zentralen Bereich des Beckens. Auf Bahn 3 kam ihr ein ebenfalls Bebrillter mit Schnauzbart nahe, der ein bisschen wie der ehemalige Olympiasieger Mark Spitz aussah, mit den Armen beim Kraulen aber fuchtelte, als würde er gleich ertrinken. Ein weiterer Badegast mit einer Haut, so weiß wie Papier, diskutierte gerade – wie Verena schemenhaft bemerkte – am Beckenrand mit dem anderen Bademeister, einem braun gebrannten Franzosen mit angegrautem Haar. Aber nicht nur des Teints wegen waren die beiden sehr gegensätzlich.
    »Höret Sie mol: Des Wasser hät nie und nimmer dreiundzwanzig Grad, des isch jo arschkalt«, hörte Verena den Mann schimpfen.
    »Aber natürlisch, Monsieur. Schauen Sie mal auf mein Thermometer«, schlug der Bademeister vor.
    »Ha, seller isch bestimmt kaputt«, ließ sich der Schwimmer nicht beirren.
    »Wenn Sie mir nischt glauben, dann müssen Sie eben
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