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Morgen früh, wenn Gott will

Morgen früh, wenn Gott will

Titel: Morgen früh, wenn Gott will
Autoren: Claire Seeber
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in eine unbestimmte Ferne. Ich versuchte, mich zusammenzunehmen. Das war doch lächerlich. Vermutlich verliefen sich hier jeden Tag Menschen. Die Tate Gallery war riesig und so fürchterlich anonym. Ich dachte an Louis und dass er mittlerweile wohl hungrig war. Meine Augen brannten und füllten sich dann mit Tränen. Also ging ich los und suchte nach dem Münztelefon, bevor ich hier auf der Stelle zu weinen anfing, mitten in der Tate Gallery. Und dann sah ich diesen netten, freundlichen Mann, der so offiziell aussah und ein Walkie-Talkie in der Hand hatte. Er kam auf mich zu.
    »Alles in Ordnung, Miss?«, fragte er. Und ich musste jeden Muskel anspannen, um nicht in Tränen auszubrechen. Er war so nett. Die Haare wuchsen ihm in kleinen Büscheln aus den Ohren heraus wie bei meinem Großvater. Seine Nase war ein wenig rot, so als würde er hin und wieder einen Whisky vertragen. Er ließ mich sein Mobiltelefon benutzen, um Mickey anzurufen, und ich war so unendlich erleichtert. Und so gelang es mir, die Tränen zurückzuhalten.
    Nur dass das Telefon ins Leere läutete. Ich sah auf die St. Pauls Cathedral, auf die große Kuppel, und begann wieder zu beten. Wirklich intensiv zu beten. Dreimal versuchte ich anzurufen. Beim ersten Mal vertippte ich mich, weil meine Hand so zitterte. Beim nächsten Mal ließ ich es läuten und läuten, bis die Mailbox sich einschaltete und Mickeys körperlose Stimme über den Äther zu mir drang. Ich sprach eine weitschweifige Botschaft auf, die voller Zorn begann und am Ende einen flehentlichen Ton annahm. Bitte, sagte ich, ruf diese Nummer zurück, und zwar schnell. Dann versuchte ich es ein drittes Mal. Doch dieses Mal blieb das Telefon tot. Mickeys Telefon schaltete sich nicht mehr ein.

Kapitel 2
     
    Das Rattern des Zuges übertönte das Keuchen meines angespannten Atems. Wieder griff ich automatisch nach dem Inhalator, doch natürlich war er immer noch weg. Nur die Socke, der kleine Sockenknödel, und ein Fingernagel voll Flaum in meiner Tasche. Mickey hatte mein Inhalationsgerät. Mickey hatte es mit sich genommen, als er gegangen war.
    Im Waggon roch es nach Pisse, doch ich versuchte trotzdem, mich zu entspannen. Leider konnte ich mich nicht eine Sekunde in die Polster sinken lassen, weil das massigste Exemplar Mensch, das ich jemals gesehen hatte, mich in die Ecke drängte. Wo er mit mir in Berührung kam, war ich nass von dem Schweiß, den seine Drüsen in der stickigen Hitze massenhaft absonderten. Dabei quetschte er sein riesiges, nylonbehostes Bein gegen meinen Oberschenkel, aber das war mir alles egal. Ich verschränkte die Arme über meinen Brüsten, die mittlerweile hart waren wie Sturzhelme. Ich konzentrierte meine ganze Willenskraft darauf, dass der Zug so schnell wie möglich fuhr, denn mittlerweile war ich sicher, dass Mickey zu Hause war. Er würde da sein, wenn ich ankam. Louis war absolut in Sicherheit. Ich verbannte jeden Gedanken an sein weinendes Gesichtchen aus meinem Kopf. Ich stampfte sie sozusagen nieder und ersetzte sie mit seinem pfirsichfarbenen, flaumigen Köpfchen, seinem pausbäckigen Lächeln.
    Den ganzen Weg nach Hause spielte ich dieses doofe Spiel, das ich als Kind dauernd gespielt hatte. Ich wettete mit mir selbst, indem ich willkürlich Voraussagen aufstellte, die sich bewahrheiten konnten oder auch nicht. Wenn der kahle Mann an der nächsten Station ausstiege, hieße das, dass Louis zu Hause auf mich wartete. Wenn die Frau die nächste Seite in ihrem Buch umblätterte, noch bevor die alte Dame neben ihr einnickte, dann würde Mickey sich bei mir entschuldigen. Er würde mich umarmen und küssen und mich um Vergebung anflehen, und ich, im Überschwang des Glücks, ich würde ihm gnädig einen Kuss erlauben.
    Und als der Zug am Bahnhof von Blackheath einlief, benahm ich mich wie früher die Kids aus meiner alten Schule, die coole Sorte, wie Robbie es war. Wie ich es war. Früher. Ich sprang vom Zug, noch bevor er hielt und lief neben dem fahrenden Zug her, ein falscher Schritt und ich läge auf den Gleisen. Ich stolperte tatsächlich und wäre fast hingefallen, doch ich fing mich wieder. Bevor ich auf den Schotter stürzte, lief ich sicher wie eh und je.
    Ich hatte in der Tate gesessen, bis ich es nicht mehr ausgehalten habe. Der nette Mann, dessen Name Mr Norland war, ließ mich bei mir zu Hause anrufen, doch leider sprang nur der Anrufbeantworter an. Ich hinterließ eine kurze gestammelte Botschaft, um Mickey zu sagen, er solle bleiben, wo er ist,
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