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Morgen früh, wenn Gott will

Morgen früh, wenn Gott will

Titel: Morgen früh, wenn Gott will
Autoren: Claire Seeber
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vollsabberte. Ein gefundenes Fressen für alle interessierten weiblichen Gäste.
    Leider fanden sich auf der Dachterrasse nur ein paar leicht verwahrlost wirkende Akademiker, die über Kunst diskutierten und ihre alten Brillengestelle über den mageren Nasenrücken nach oben schoben. Dazu ein paar Studenten in Flip-Flops, die sich ihre Cappuccinos teilten. Und ein paar gut situierte Damen, die offensichtlich nichts zu tun hatten außer ihr Mittagessen einzunehmen. Kein Mickey. Kein Baby. Und während der ganzen Zeit, in der ich auf und ab jagte, stellte ich mir vor, wie ich Mickey rügen würde, während ich Louis in den Arm nahm und wie wir gemeinsam über alles lachen würden. Schließlich wallte Panik in mir auf, und ich geriet in Rage. Schluss mit fröhlichen Bildchen, jetzt stellte ich mir vor, wie ich Mickey zur Schnecke machen würde.
    Und plötzlich sah ich, als ich zum fünften Mal mit dem Aufzug hochfuhr, meinen Buggy. Mein Gott! Eine Welle der Erleichterung ergriff mich und wallte über mich hinweg, bis ich sozusagen vollständig geplättet war. Meine Knie zitterten etwa eine Minute lang.
    »Louis«, brachte ich nur heraus. Gott sei Dank! Mein Herz setzte zum Höhenflug an – bis ich diesen merkwürdigen Mann sah, der meinen Sohn hoch in die Luft hob, ihn mit dem Kinn kitzelte, ihn wieder über seinem Kopfkreisen ließ, und das Kind lachte und gluckste, und dann drehten beide sich um, und es war gar nicht Louis. Noch war es mein Buggy. Mit einem Mal wurde mir schlecht, schlechter, als mir je gewesen war. Mir war richtig vom Magen her übel, wie es so schön heißt, und die Übelkeit erfasste meinen ganzen Körper bis zu den Fußsohlen.
    Bitte, Mickey, du Narr, bat ich innerlich, während ich die Treppen hinunterging, bitte, sei endlich einmal da, wo du gebraucht wirst. Die Menschen starrten mich seltsam an. Ich biss meine Zähne so stark zusammen, dass mir der Kiefer weh tat. Ich war dermaßen wütend, so maßlos zornig über Mickeys unendliche Gedankenlosigkeit, darüber, dass er einfach so verschwand und nicht einmal ansatzweise an mich dachte. Ich hätte vor Wut heulen können. Das war so verdammt typisch für ihn. Und natürlich war ich auch wütend auf alle anderen Menschen hier, denen es gut ging, die keine Sorgen hatten und nicht vor Zorn am liebsten losgeschrien hätten, die nicht ihre Familie verloren hatten. Die nicht unerwartet allein dastanden.
    Bestimmt waren sie spazieren gegangen. Natürlich! Ich lief hinaus. Eigentlich rannte ich mehr und bahnte mir rücksichtslos einen Weg durch die Menge. Vorbei am süß nach gebrannten Erdnüssen duftenden Imbissstand, vorbei an dem Idioten mit seinem Vogelgezwitscher, hindurch durch Horden von indignierten Deutschen und Japanern, die demütig ihre Augen zu ihren vor dem Bauch baumelnden Kameras niederschlugen. Am Himmel drehten Möwen ihre Kreise und ließen trauernde Rufe nach noch mehr Abfällen erschallen. Einem kleinen Mädchen fiel fast das Eis hinunter, weil ich sie anstieß, während ich mich immer noch im Laufen nach Louis umsah.
    »Entschuldige, Kleines. Es tut mir so leid.« Am liebsten hätte ich sie in den Arm genommen, doch ihre Eltern sahen mich an, als sei ich nicht ganz dicht. Also drehte ich mich um und eilte ins Museum zurück.
    Mittlerweile war ich außer Atem. Meine Brust schmerzte, und mein Inhalator … ich suchte in meiner Rocktasche danach, aber natürlich war auch das Inhaliergerät in der abgängigen Handtasche. Einen Augenblick lang setzte ich mich auf einen der Lederhocker, ließ den Kopf in die Hände sinken und versuchte, meine Gedanken zu sammeln. Praktisch zu denken. Ich durchsuchte meine Rocktaschen: Ich hatte sechs Pence, mein Zugticket und eine Babysocke bei mir. Eine kleine, zusammengeknüllte Socke. Ich dachte an ein R-Gespräch. Ob das bei Handys überhaupt ging? Vielleicht sollte ich meine Schwester anrufen, damit sie Mickey anrief? Ich fand einen Wachmann und fragte ihn nach einem Münztelefon.
    »Unten«, antwortete er knapp und wedelte mit der Hand.
    »Gibt es hier eine Stelle, an der man vermisste Personen melden kann? Oder einen Treffpunkt, wenn man sich aus den Augen verloren hat? Vielleicht kann man ja eine Lautsprecherdurchsage machen. Ich habe meinen Ehemann verloren«, sagte ich. »Und er hat das Kind bei sich.« Seit wann hatte ich Probleme mit der Aussprache? Er schien mich nicht zu verstehen. Genauer gesagt sah er mich gelangweilt an.
    »Walkie-Talkie«, brachte er endlich heraus und wies mit der Hand
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