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Morgen früh, wenn Gott will

Morgen früh, wenn Gott will

Titel: Morgen früh, wenn Gott will
Autoren: Claire Seeber
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hasste, und ich dachte: Ach, was soll’s. Ich kann genauso gut aufstehen und Tee trinken. Dann habe ich wenigstens eine Stunde für mich, bevor das Baby aufwacht. Natürlich war Louis eine Minute später wach.
    Es war merkwürdig, denn obwohl mich die Begegnung mit der unheimlichen Frau verunsichert hatte und obwohl mein Rock vollkommen ruiniert und meine Nerven ein klein bisschen angeschlagen waren, genoss ich die Ausstellung.
    Ich bog einmal um die Ecke und fand mich plötzlich in einem Raum wieder, wo dieses kleine Bild von einer Frau hing. Sie stand am Fenster und sah auf eine Art Feld hinaus, und ich fühlte mich plötzlich, ich weiß nicht, irgendwie heiter. »Heiter« – ein gutes Wort. Alle Nervosität fiel von mir ab, ich stand einfach da und betrachtete das Bild. In gewisser Weise vergaß ich sogar, wo ich war, ich vergaß meine Babypfunde und meine Müdigkeit und dass Mickey und ich uns in letzter Zeit ständig kabbelten. Stattdessen war ich einfach nur glücklich, als wäre es genau das Richtige, jetzt hier zu sein, mit meinem Sohn, den ich schließlich trotzdem innig liebte, und dem Ehemann, den ich immer noch kennen lernen wollte. Der mich wirklich liebte – obwohl ich ihn einmal einen Briten genannt habe. Der mich heute Morgen geliebt hatte wie früher. Und dieses »früher« lag noch gar nicht so lange zurück. Dann dachte ich, dass ich jetzt einfach nur mit meiner Familie zusammen sein wollte, und bevor ich mich aufmachte, um sie zu suchen, dankte ich wortlos der Frau im Bild. Ich weiß, das hört sich kitschig an und merkwürdig, aber mir war danach. Ich dachte, ja, genau, aus diesem Grund sind wir hier und sehen uns Kunst an, weil sie uns hilft, unser Leben aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten. Ein Leben, das nicht selten in Monotonie und Langeweile erstickt.
    Ich sah mich nach Mickey und Louis um, mit denen ich meine inspirierten Gedanken teilen wollte. Nur, dass sie nirgendwo zu sehen waren. Sie müssen mir doch vorausgegangen sein, dachte ich und machte mich auf in die nächsten Räume, aber dort fand ich sie auch nicht. Also ging ich denselben Weg zurück in der Annahme, Mickey hätte vielleicht kehrtgemacht, um sich ein bestimmtes Bild noch einmal anzusehen. Manchmal war er eine echte Schnecke. Ich wusste, dass er vor manchem Bild eine Viertelstunde und länger stehen konnte, wenn ich mich längst schon langweilte und weiterwollte. So ein Typ war er.
    Nur dass er auch dort nicht war. Er war überhaupt nirgendwo in der Gallery. Mein Herz schlug ein klein bisschen schneller, aber dann fiel mir ein, dass er vielleicht einfach hinausgegangen war, weil Louis geweint hatte, und ich hatte nichts davon mitbekommen. Vielleicht sind sie ja im Museumsshop und kaufen Postkarten, dachte ich. Ich eilte also zum Shop, doch dort war er auch nicht. Das Café! Mittlerweile hatte sich ein dünner Film kalten Schweißes auf meine Oberlippe gelegt. Er könnte auch im Wickelraum sein. Oder im großen Shop im Erdgeschoss. Vielleicht war er längst zurück in der Ausstellung, war von hinten her noch einmal hineingegangen, und ich hatte die beiden einfach nur verpasst. Also erklärte ich der mürrischen Frau am Eingang, dass ich meinen Mann und mein Kind nicht mehr wiederfände und deshalb zurückmüsse. Einen Augenblick lang sah sie mich zweifelnd an, weil ich ja kein Ticket mehr hatte und möglicherweise log, um umsonst hineinzukommen, aber irgendetwas an meiner Art musste sie schließlich doch überzeugt haben, dass ich die Wahrheit sagte, denn sie ließ mich durch. Vergeblich suchend lief ich durch die Räume. Mein Gott, wie aufmerksam, wie hoffnungsvoll ich suchte.
    Und dann die Erleichterung: Natürlich, du brauchst ihn ja nur anzurufen, dumme Gans. Warum hast du nicht gleich daran gedacht? Doch dann fiel mir ein, dass mein Handy im Netz des Buggys steckte, meine Tasche über den Griff drapiert war und ich nichts bei mir hatte, kein Telefon, kein Geld. Gar nichts.
    In den nächsten vierzig Minuten jagte ich durch das riesige Gebäude. Mit dem Aufzug hinauf und wieder hinunter, wie eine Verrückte hinter glücklich schnatternden Touristen her. Hinein in den Lift, heraus aus dem Lift. Wie im Stummfilm. Hinauf zum Clubraum. Vielleicht wollte Mickey ja einen Blick auf die Themse und die wackelige Brücke werfen. Typisch Mickey. Er würde in einem Liegestuhl auf der Dachterrasse sitzen und sich über dem grauen Fluss sonnen, über den halb leeren Ausflugsschiffchen, während Louis neben ihm sein T-Shirt
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