Morgen früh, wenn Gott will
hätte er mit Martin Goldsmith von Genesis einen Termin im One Aldwych gehabt. Das ist ein ziemlich wichtiger Neukunde. Das hat Mickey vermutlich vergessen, als er sich den Tag frei nahm.«
Einen Moment lang machte die Erleichterung mich sprachlos.
»Hallo, Mrs Finnegan? Sind Sie noch …«
»Verzeihung. Ja.« Langsam meldete mein Gehirn sich wieder. »Vielen, vielen Dank, Jenny. Wie dumm von mir. Ich wusste ja, es musste etwas in der Richtung sein. Er ist einfach nur so ungeschickt, wenn es um sein Handy geht. Bestimmt hat er es vergessen aufzuladen.« Ich atmete tief durch. »Ich habe nur eben die Panik bekommen, als ich ihn nicht erreichen konnte.«
»Kein Problem. Er ist immer ein bisschen durcheinander, wenn Pauline nicht da ist, nicht wahr?« Scheu kicherte sie, als hätte sie etwas Falsches gesagt.
Ja, stimmte ich ihr zu, natürlich war er das. Verloren ohne die Festung Pauline, den Kopf von Mickeys Rennstall fähiger Frauen.
Ich wollte gerade die Auskunft anrufen und mir die Nummer des Hotels geben lassen, als draußen ein Wagen vorfuhr. Ich sprintete zum Fenster und verschüttete meinen Tee, als ich durch Jeans makellos sauberen Flur lief. Mickey! Es war Mickey – es musste Mickey sein. Doch er war es nicht. Es war nur ein Lieferwagen, der den Nachbarn Wein brachte. Kartons voll Wein, die sich neben dem matten Sommerflieder stapelten, während die Nachbarn mit dem Lieferanten scherzten und lachten. Während ich um die Rückkehr meines Sohnes betete.
Das Telefon läutete. Mein Magen sackte nach unten. Endlich! Wieder schoss ich durch den Flur. Das würde Mickey sein, der sein Meeting hinter sich hatte, ein wenig sauer und gleichzeitig ein wenig aufgeblasen, weil er gerade einen Superdeal an Land gezogen hatte. Ich konnte Louis schon hören, wie er am anderen Ende der Leitung gluckste …
Doch es war nur Jenny. Sie klang besorgt.
»Ahm, Mrs Finnegan. Ich habe gerade Mickeys Mailbox abgehört. Es war eine Botschaft von Mr Goldsmith darauf, der sich gewundert hat, wo Mickey wohl abgeblieben ist. Ich habe ihn eben zurückgerufen und er … nun, offenkundig hat er mehr als eine Stunde gewartet. Mickey ist zu dem Treffen überhaupt nicht erschienen.«
Das Wichtigste war jetzt, einen ruhigen Kopf zu behalten.
»Oh. Aha. Danke, Jenny. Würden Sie …« Ich zwang mich, es auszusprechen. »Würden Sie mich bitte verständigen, wenn Sie etwas von ihm hören?«
Das Wichtigste war, das Atmen nicht zu vergessen.
»Natürlich, aber ich bin nicht mehr allzu lange hier. Soll ich schnell das Hotel für Sie anrufen und nochmals nachhaken?«
»Bitte«, nahm ich dankbar an. »Das wäre toll. Vielen Dank, Jenny.«
Dann hängte ich ein und begann, auf und ab zu gehen, wobei ich mir auf die Lippen biss. Ich hörte den Anrufbeantworter ab, aber außer meiner Stimme und dem Klempner, dessen Anruf ich seit Wochen erwartete, war nichts zu hören. Jenny rief nicht zurück.
Ich stand in dem Haus, das ich immer noch als Mickeys Haus betrachtete, und fragte mich, was zum Teufel ich als Nächstes tun sollte. Ich musste etwas tun, sonst würde mich die Angst überwältigen. Ich versuchte mich zu erinnern, ob ich etwas vergessen hatte und ließ mir die Szene, als Mickey von mir wegging, immer und immer wieder durch den Kopf gehen. Hatte er etwas gesagt, das ich überhört hatte? Louis’ Gesichtchen schob sich immer wieder vor alle anderen Bilder. Wahrscheinlich weinte er jetzt gerade, weil ich nicht da war. Seine seidenweichen Wimpern würden unter seinen Tränen zu feuchten, kleinen Dornen werden. Seine Unterlippe würde sich kräuseln, wenn er seinen zarten Möwenschrei ausstieß. Er würde nicht begreifen, weshalb ich nicht da war oder warum ich ihn verlassen hatte. Würde Mickey ihn auch aufnehmen und ihn trösten? Natürlich würde er das. Oder etwa doch nicht? War Mickey überhaupt da … an diesem Punkt hielt ich inne. Das Entsetzen, das dieser Gedanke mir einflößte, ließ mich die Nägel in die Handinnenflächen pressen. Mein Gott, es war alles mein Fehler. Ich hätte Louis niemals aus den Augen lassen sollen.
Ich habe es also getan. Ich tat, was mir von Anfang an durch den Kopf gegangen war: Ich wählte die 999. Als ich durchkam, sagte ich panisch, ich hätte vermisste Personen zu melden. Vermisste Personen. Mein vermisstes Baby.
Aber natürlich hielten die Polizisten mich für verrückt, auch wenn sie zu höflich waren, um es laut auszusprechen. Ein Beamter mit dem pfeifenden Atemgeräusch eines Rauchers redete
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