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MORDMETHODEN

MORDMETHODEN

Titel: MORDMETHODEN
Autoren: Mark Benecke
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nun ohne Gewicht. Ohnehin traute sich kaum noch jemand, mit Stalin zu streiten.
    Der Chef der politischen Polizei konnte deswegen schon am 23. Januar, zwei Tage nach Lenins Tod, in der Prawda die Leitlinie vorgeben: »Könige«, schrieb er, »werden einbalsamiert, weil sie Könige sind. Was mich betrifft, besteht die Hauptfrage nicht darin, ob man den Leichnam von Wladimir Iljitsch auf Dauer erhalten soll, sondern wie das zu geschehen hat.«
    Vier Tage später wurde Lenins Leiche in ein provisorisch zusammengezimmertes Mausoleum gebracht. Arbeiter hatten in den steinhart gefrorenen Boden einen drei Meter tiefen Schacht getrieben; dort hinein kam der Leichnam. Es war ein großes Glück, dass die Leiche auf diese Art tiefgefroren wurde, denn unter sommerlichen Bedingungenwäre sie unwiderruflich in Fäulnis übergegangen. Eine für die Leichenlagerung brauchbare Kühlanlage gab es nicht, die mussten die Sowjets erst im Ausland bestellen.
    In der Grabeskälte trocknete die Leiche aus, während Bakterien kaum wachsen konnten. Dafür gibt es drei Gründe. Erstens entwickeln sich Bakterien bei niedrigen Temperaturen nur sehr langsam oder gar nicht. Zweitens arbeiten auch die körpereigenen, selbstzersetzenden Stoffe kaum. Und drittens bewirkt die Kälte, dass alles Wasser in der Umgebung gefriert und die Leiche somit mehr Wasser enthält als die Umgebung. Dieses Wasser gelangt nun, wenn auch sehr langsam, ins Freie. Ein Körper trocknet auch in eisigem Boden nach einiger Zeit aus.
    Hilfreich bei der Erhaltung der Leiche war auch, dass der Anatom Abrikossov sechs Liter einer Lösung aus Formalin, Alkohol, Zink-Chlorid und Glyzerin, das heißt eine Art konservierendes Gefrierschutzmittel, in die Adern Lenins gefüllt hatte. Die Blutbahnen waren nun für Bakterien und andere Keime keine Schnellstraßen mehr, die sie bei höheren Temperaturen zur Ausbreitung im Körper hätten nutzen können.
    Trotzdem: Dort, wo Lenins Schädel zur Gehirnentnahme aufgesägt worden war, entstanden braune Flecken, und auch die übrigen Hautvertrocknungen wurden immer schwärzer. Ein politischer Ausschuss stritt derweil, bar jeder Sachkenntnis, um die richtige Aufbewahrungsmethode des postmortalen Gewebegebildes.
    Nach tagelangem Hickhack beauftragte das Gremium schließlich den Anatomieprofessor Wladimir Worobjow damit, ein Präparierteam zusammenzustellen und sich an die Arbeit zu machen. Worobjow hatte bei dieser Aufgabe, ganz zu Recht, Angst um sein Leben. Wenn es ihmnicht gelänge, den Körper wieder herzurichten, würde das einem Staatsverrat gleichkommen. Lehnte er die Aufgabe ab, würde ihn das ebenfalls den Kopf kosten.
    Worobjows großes Glück war, dass er schon mehrfach ein Konservierungsrezept des Moskauer Pathologen Melnikow-Raswedenkow aus dem Jahr 1895 ausprobiert hatte. Es bestand aus folgenden Zutaten und ist wohl bis heute die Ursache der Erhaltung von Lenins Leiche:
    240 Liter Glyzerin (zur Gewebeweichhaltung, gegebenenfalls auch als Frostschutz),
    110 Kilogramm Kaliumazetat (zur Wasserbindung im Gewebe),
    150 Liter Wasser,
    ein bis zwei Prozent Chlorchinin (zur Desinfektion).
    Damit die Präparatoren in Ruhe arbeiten konnten, wurde das Mausoleum für vier Monate geschlossen und der Biochemiker Boris Iljitsch Zbarski als Worobjows Assistent verpflichtet. Zehn Jahre später stieß auch Zbarskis Sohn Ilja zum Team. Er schwört, dass bis heute die echte Leiche Lenins ausgestellt ist und keineswegs eine Wachsfigur.
    Wie war es dem ersten Team gelungen, die bereits verfärbte Leiche nach zwei Monaten wieder in einen ansehnlichen Zustand zu bringen? Selbst aus heutiger Sicht grenzt diese Tat an ein präparatorisches, wenngleich chemisch erzwungenes Wunder.
    Da alle Mitarbeiter des Konservierungsteams wussten, dass ein Fehlschlag ihrer Bemühungen den Tod bedeuten konnte, hatten sie nichts zu verlieren. Worobjow entfernte daher zunächst alle inneren Organe aus der Brust- und Bauchhöhle, da sie besonders anfällig für Fäulnis sind. Dann ließ er die offen liegenden Körperbereiche erst mit Wasser, dann mit Formalin und schließlich mit Essig ausspülen.
    Nun konnte die halbwegs gereinigte und von bakterienanfälligem Material befreite Leiche erstmals vollständig aufgetaut und in ein Formalinbad gelegt werden. Eine Heizung im Gewölbe sorgte für Temperaturen um 16 Grad Celsius. Der Nachteil dieser ansonsten komfortablen Arbeitstemperatur war, dass die fürchterlich beißenden Formalindämpfe sich aus dem Leichenbad heraus
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