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Mord im Orientexpress

Mord im Orientexpress

Titel: Mord im Orientexpress
Autoren: Agatha Christie
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also noch immer osteuropäische Zeit an, die der mitteleuropäischen Zeit um eine Stunde vorläuft. Es war Viertel nach zwölf, als Mr. Ratchett erstochen wurde, nicht Viertel nach eins.»
    «Aber diese Erklärung ist aberwitzig», rief Monsieur Bouc. «Was ist mit der Stimme, die um dreiundzwanzig Minuten vor eins aus seinem Abteil zu hören war? Das muss Mr. Ratchett selbst gewesen sein – oder sein Mörder.»
    «Nicht unbedingt. Es könnte – nun – auch eine dritte Person gewesen sein. Jemand, der zu Ratchett gegangen war, um mit ihm zu sprechen, und ihn tot vorfand. Er klingelte nach dem Schaffner, aber dann wurde ihm mulmig, wie Sie es ausdrücken würden – er fürchtete, man würde ihm die Tat zur Last legen, und tat so, als wäre er Mr. Ratchett.»
    «C ’ est possible», musste Monsieur Bouc zähneknirschend zugeben.
    Poirot sah Mrs. Hubbard an.
    «Ja, Madame, Sie wollten gerade sagen –?»
    «Hm – ich weiß selbst nicht mehr, was ich sagen wollte. Meinen Sie denn, ich hätte auch vergessen, meine Uhr zurückzustellen?»
    «Nein, Madame. Ich glaube Ihnen schon, dass Sie den Mann durch Ihr Abteil haben gehen hören – allerdings nur im Unterbewusstsein. Später hatten Sie dann einen Albtraum – von einem Mann in Ihrem Abteil. Da sind Sie aus dem Schlaf geschreckt und haben nach dem Schaffner geklingelt.»
    «Ja, das könnte sein», räumte Mrs. Hubbard ein.
    Fürstin Dragomiroff sah Poirot mit festem Blick an.
    «Und wie erklären Sie die Aussage meiner Zofe, Monsieur?»
    «Ganz einfach, Madame. Ihre Zofe hat das Taschentuch, das ich ihr zeigte, als das Ihre erkannt. Sie hat – ein wenig ungeschickt – versucht, Sie zu schützen. Sie war diesem Mann tatsächlich begegnet, aber früher – während der Zug in Vincovci hielt. Dass sie behauptete, sie habe ihn zu einem späteren Zeitpunkt gesehen, geschah wohl in der etwas wirren Absicht, Ihnen ein wasserdichtes Alibi zu geben.»
    Die Fürstin neigte den Kopf. «Sie haben alles bedacht, Monsieur. Ich – muss Sie bewundern.»
    Es wurde still.
    Dann fuhren alle plötzlich zusammen, als Dr. Constantine mit der Faust auf den Tisch hieb.
    «Aber nein!», rief er. «Nein, nein und abermals nein! Diese Erklärung stimmt hinten und vorn nicht. Sie lässt etliche kleinere Punkte völlig außer Acht. Das Verbrechen hat sich nicht so abgespielt – und Monsieur Poirot weiß das ganz genau.»
    Poirot bedachte ihn mit einem sonderbaren Blick.
    «Ich sehe», sagte er, «dass ich Ihnen auch meine zweite Lösung vorstellen muss. Aber verwerfen Sie die erste nicht zu voreilig. Vielleicht möchten Sie ihr später doch noch zustimmen.»
    Er wandte sich wieder den Übrigen zu.
    «Es gibt also für den Fall noch eine zweite mögliche Lösung, auf die ich folgendermaßen gekommen bin:
    Nachdem ich alle Aussagen gehört hatte, habe ich mich zurückgelehnt, die Augen geschlossen und nac h gedacht. Einige Punkte erschienen mir dabei einer näheren Betrachtung wert. Ich habe sie meinen beiden Kollegen aufgezählt. Manche habe ich auch schon aufgeklärt – wie den Fettfleck auf einem Pass und so weiter. Ich will jetzt die verbliebenen Punkte durchgehen. Der erste und bedeutsamste war eine Bemerkung, die Monsieur Bouc am ersten Tag nach unserer Abfahrt von Istanbul mittags im Speisewagen mir gegenüber machte – des Inhalts, dass wir da eine sehr interessante Gesellschaft beisammen hätten, da sie sich so unterschiedlich zusammensetze – bestehend aus Menschen aller Schichten und Nationalitäten.
    Ich teilte diese Meinung, aber als mir das später wieder in den Sinn kam, habe ich mir vorzustellen versucht, wie oder wo eine solch gemischte Gesellschaft auch unter anderen Bedingungen zusammenkommen könnte. Und ich gab mir zur Antwort: nur in Amerika. In Amerika könnte ein Haushalt sich aus so vielen verschiedenen Nationalitäten zusammensetzen – italienischer Chauffeur, englische Gouvernante, schwedische Kinderschwester, französische Zofe und so weiter. Das hat mich zum Raten verführt – das heißt, ich habe jeder Person eine Rolle in der Armstrong-Tragödie zugewiesen, wie bei der Besetzung eines Theaterstücks. Und dabei bin ich zu einem hochinteressanten und sehr befriedigenden Ergebnis gekommen.
    Ich hatte mir auch schon die Aussagen der verschiedenen Personen einzeln durch den Kopf gehen lassen und war dabei zu einigen merkwürdigen Resultaten gekommen. Nehmen wir zuerst Mr. MacQueens Aussage. Mein erstes Gespräch mit ihm verlief vollkommen normal und zufrieden
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