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Mord im Orientexpress

Mord im Orientexpress

Titel: Mord im Orientexpress
Autoren: Agatha Christie
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schön.
    Ihr Blick ging kurz – nur ganz kurz – zu Arbuthnot.
    Dann sagte sie zu Poirot: «Sie möchten mich sprechen?»
    «Ich möchte Sie fragen, Mademoiselle, warum Sie uns heute Morgen angelogen haben.»
    «Sie angelogen? Ich weiß nicht, was Sie meinen.»
    «Sie haben uns verschwiegen, dass Sie zur Zeit der Kindesentführung im Hause Armstrong lebten. Sie haben mir erzählt, Sie wären noch nie in Amerika gewesen.»
    Er sah sie kurz zusammenzucken, aber sie fing sich gleich wieder.
    «Ja», sagte sie. «Das ist wahr.»
    «Nein, Mademoiselle, es ist unwahr.»
    «Sie haben mich missverstanden. Ich meinte, es ist wahr, dass ich Sie belogen habe.»
    «Das geben Sie also zu?»
    Ihr Mund verzog sich zu einem Lächeln.
    «Natürlich. Sie sind mir ja auf die Schliche gekommen.»
    «Wenigstens sind Sie frei heraus, Mademoiselle.»
    «Etwas anderes bleibt mir ja wohl nicht übrig.»
    «Stimmt auch wieder. Und nun, Mademoiselle, darf ich Sie nach dem Grund für diese Ausflüchte fragen?»
    «Ich dächte, der Grund springt einem förmlich ins Gesicht, Monsieur Poirot.»
    «Mir springt er nicht ins Gesicht, Mademoiselle.»
    Sie sagte in gelassenem Ton, in dem jedoch ein Anflug von Härte lag: «Ich muss für meinen Lebensunterhalt arbeiten.»
    «Das heißt –?»
    Sie hob den Blick und sah ihm voll ins Gesicht.
    «Was wissen Sie davon, Monsieur Poirot, was es für ein Kampf ist, eine ordentliche Arbeitsstelle zu bekommen und zu behalten? Sie glauben doch nicht, dass eine Frau, die im Zusammenhang mit einem Mord festgenommen wurde, deren Name, vielleicht sogar mit Foto, durch die englischen Zeitungen gegangen ist – Sie glauben doch nicht wirklich, dass so eine Frau noch für die nette, normale englische Bürgerfamilie als Gouvernante für ihre Töchter in Frage kommt?»
    «Warum nicht – wenn keine Schuld an ihr klebt?»
    «Schuld, ach Gott – es geht nicht um Schuld, es geht nur um das Aufsehen. Bisher bin ich gut durchs Leben gekommen, Monsieur Poirot. Ich hatte gut bezahlte, angenehme Stellen. Und ich wollte die Stellung, die ich mir im Leben erworben habe, nicht aufs Spiel setzen, wenn damit keinem guten Zweck gedient war.»
    «Ich wage zu behaupten, Mademoiselle, dass ich das besser hätte beurteilen können als Sie.»
    Sie zuckte mit den Schultern.
    «Sie hätten mir zum Beispiel bei den Identifizierungen helfen können.»
    «Wie meinen Sie das?»
    «Ist es denn denkbar, Mademoiselle, dass Sie in der Gräfin Andrenyi nicht Mrs. Armstrongs jüngere Schwester erkannt haben, die Sie in New York unterrichteten?»
    «Gräfin Andrenyi? Nein.» Sie schüttelte den Kopf. «Es mag Ihnen unglaubhaft vorkommen, aber ich habe sie nicht erkannt. Sie war ja seinerzeit noch nicht erwachsen, verstehen Sie? Seitdem sind mehr als drei Jahre vergangen. Es ist richtig, dass die Gräfin mich an irgendjemanden erinnert hat – es hat mich nachdenklich gemacht. Aber sie sieht so fremdländisch aus – ich hätte sie nie mit diesem kleinen amerikanischen Schulmädchen in Verbindung gebracht. Es ist allerdings auch richtig, dass ich sie nur flüchtig angesehen habe, als ich in den Speisewagen kam. Dabei habe ich mehr auf ihre Kleidung als auf ihr Gesicht geachtet.» Ein kleines Lächeln spielte um ihre Lippen. «Frauen sind nun einmal so. Und außerdem – nun, ich war mit eigenen Problemen beschäftigt.»
    «Sie wollen mir also Ihr Geheimnis nicht verraten, Mademoiselle?» Poirots Ton war sehr sanft, aber beschwörend.
    «Ich kann nicht», sagte sie mit leiser Stimme, «nein, ich kann nicht.»
    Und ohne jede Vorwarnung brach sie plötzlich zusammen, ließ den Kopf auf die ausgestreckten Arme sinken und weinte, als müsse ihr das Herz brechen.
    Der Oberst sprang auf und stellte sich verlegen an ihre Seite.
    «Ich – hör doch mal –»
    Er brach ab, dann fuhr er herum und funkelte Poirot böse an.
    «Ich breche Ihnen sämtliche Knochen im Leib, Sie schmieriger kleiner Wichtigtuer», sagte er.
    «Monsieur!», begehrte Monsieur Bouc auf.
    Arbuthnot hatte sich der jungen Frau wieder zugewandt.
    «Mary – um Himmels willen –»
    Sie sprang auf.
    «Es ist nichts. Schon gut. Sie brauchen mich wohl nicht mehr, Monsieur Poirot? Wenn doch, dann müssen Sie zu mir kommen. O Gott, nein, wie kann ich mich hier so zum Narren machen!»
    Sie eilte davon. Bevor Colonel Arbuthnot ihr folgte, drehte er sich noch einmal zu Poirot um.
    «Miss Debenham hat mit dieser Sache nichts zu tun – nichts, verstanden? Und wenn Sie ihr noch länger zusetzen,
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