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Mord im Orientexpress

Mord im Orientexpress

Titel: Mord im Orientexpress
Autoren: Agatha Christie
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Schaffner auf seinem kleinen Klappsitz und schrieb Zahlen auf große Blätter. Alles war totenstill.
    «Mir machen anscheinend die Nerven zu schaffen», sagte Poirot und legte sich wieder zu Bett. Diesmal schlief er durch bis zum Morgen.
    Als er aufwachte, stand der Zug immer noch. Er schob ein Rollo hoch und schaute hinaus. Mächtige Schneewehen umgaben den Zug.
    Er sah auf die Uhr. Es war schon nach neun.
    Um Viertel vor zehn begab er sich, geschniegelt und gestriegelt wie immer, in den Speisewagen, wo ein Chor der Wehklagen im Gange war.
    Alle Schranken, die zwischen den Passagieren noch bestanden haben mochten, waren jetzt endgültig gefallen. Sie waren geeint im gemeinsamen Unglück. Mrs. Hubbard lamentierte am lautesten.
    «Meine Tochter hat gesagt, es wäre das Einfachste auf der Welt. Ich soll einfach im Zug sitzen bleiben, bis ich in Paris bin. Und jetzt stecken wir hier womöglich tagelang fest», jammerte sie. «Dabei geht mein Schiff übermorgen. Wie soll ich das jetzt noch erreichen? Ich kann ja nicht einmal telegrafieren und meine Überfahrt streichen. Ich bin so wütend, dass ich es gar nicht sagen kann.»
    Der Italiener behauptete, auf ihn warteten in Mailand dringende Geschäfte. Der vierschrötige Amerikaner erklärte, es sei «aber auch zu schlimm, Madam», und äußerte beschwichtigend die Hoffnung, dass der Zug die Zeit vielleicht wieder hereinholen könne.
    «Meine Schwester – ihre Kinder warten mich», schluchzte die Schwedin. «Ich kann sie nicht Bescheid sagen. Was werden denken? Werden sagen, mir ist Schlimmes passiert.»
    «Wie lange werden wir denn hier wohl noch festsitzen?», fragte Mary Debenham. «Weiß das jemand?»
    Ihr Ton klang ungeduldig, aber Poirot bemerkte, dass von der fast fiebrigen Besorgtheit, die sie bei dem kurzen Aufenthalt des Taurus-Express noch an den Tag gelegt hatte, hier nichts mehr herauszuhören war.
    Mrs. Hubbard legte von neuem los.
    «In diesem Zug weiß überhaupt niemand etwas. Und keiner unternimmt etwas. Eine Bande von nichtsnutzigen Ausländern ist das! Also, wenn das bei uns zu Hause wäre, da würde jemand wenigstens versuchen, etwas zu tun.»
    Arbuthnot wandte sich an Poirot und sagte stockend in britischem Französisch: «Vous êtes – un dire c teur de la ligne – je crois – Monsieur. Vous pouvez – nous dire – »
    Poirot korrigierte ihn lächelnd. «Nein», antwortete er auf Englisch. «Das bin nicht ich. Sie verwechseln mich mit meinem Freund, Monsieur Bouc.»
    «Oh, Verzeihung.»
    «Keine Ursache. Ein verständlicher Irrtum. Ich reise jetzt in dem Abteil, das er bisher hatte.»
    Monsieur Bouc war nicht im Speisewagen. Poirot blickte in die Runde, um festzustellen, wer sonst noch fehlte.
    Es fehlten die Fürstin Dragomiroff und das ungarische Ehepaar. Ebenso Ratchett, sein Diener und die deutsche Zofe.
    Die Schwedin wischte sich die Tränen aus den Augen.
    «Ich so dumm», sagte sie. «Ich weine wie Baby. Was auch passiert, sicher ist gut.»
    Diese wahrhaft christliche Einstellung wurde jedoch keineswegs geteilt.
    «Alles schön und gut», meinte MacQueen besorgt. «Aber wir können Tage hier festsitzen.»
    «In welchem Land sind wir überhaupt?», begehrte Mrs. Hubbard unter Tränen zu erfahren.
    Als sie darüber aufgeklärt wurde, dass man in Jugoslawien sei, rief sie: «O Gott, auf dem Balkan! Was kann man da schon erwarten!»
    «Sie sind hier die Einzige, die sich in Geduld fasst, Mademoiselle», sagte Poirot zu Miss Debenham.
    Sie zuckte mit den Schultern. «Was kann man denn schon machen?»
    «Sie sind eine wahre Philosophin, Mademoiselle.»
    «Das würde Abgeklärtheit voraussetzen. Ich glaube aber, bei mir ist es eher Eigennutz. Ich habe gelernt, mir unnütze Gefühle zu ersparen.»
    Sie sah ihn dabei nicht einmal an. Ihr Blick ging an ihm vorbei zum Fenster, vor dem der Schnee sich türmte.
    «Sie sind eine sehr starke Persönlichkeit, Mademoiselle», sagte Poirot freundlich. «Ich glaube sogar, Sie sind die Stärkste von uns allen.»
    «O nein. Das nun wirklich nicht. Ich kenne jemanden, der viel stärker ist als ich.»
    «Und das ist –?»
    Sie schien ganz plötzlich zur Besinnung zu kommen, sich bewusst zu werden, dass sie mit einem Wildfremden sprach, einem Ausländer, mit dem sie bis zu diesem Morgen höchstens ein halbes Dutzend Sätze gewechselt hatte.
    Ihr Lachen war höflich, aber distanziert.
    «Nun – diese alte Dame zum Beispiel. Sie ist Ihnen wahrscheinlich schon aufgefallen. Eine sehr hässliche alte Dame, aber
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