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Mord auf der Leviathan

Mord auf der Leviathan

Titel: Mord auf der Leviathan
Autoren: Boris Akunin
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hatte die Form eines gleichschenkligen Dreiecks, jede Seite war nicht mehr als 46 Zentimeter lang. Die Zeichnung beeindruckte durch barbarische Buntheit. Vor dem Hintergrund farbenprächtiger Bäume und Früchte breitete ein Wesen, halb Frau, halb Vogel, mit spitzen Brüsten, ähnlich einer antiken Sirene, die Flügel aus. Das Gesicht war im Profil, lange gebogene Wimpern umrahmten ein kleines Augenloch, das mit feinstem Goldfaden gesäumt war. Clarissa glaubte, noch nie etwas Schöneres gesehen zu haben.
    »Ja, das ist es, ohne Zweifel«, sagte Milford-Stokes. »Aber beweist Ihr Fund die Schuld von Madame Kleber?«
    »Und die Reisetasche?« sagte Fandorin sanft. »Sie erinnern sich doch an die Tasche, die wir b-beide gestern im Kapitänskutter entdeckten? Unter anderem habe ich dort den Umhang gefunden, in dem wir Madame Kleber mehr als einmal gesehen haben. Die Tasche kommt zu den anderen Beweisstücken. Sicherlich finden wir darin weitere Gegenstände, die unserer guten B-bekannten gehören.«
    »Was sagen Sie nun, Madame?« fragte der Doktor Renate.
    »Die Wahrheit«, antwortete sie, und ihr Gesicht veränderte sich bis zur Unkenntlichkeit.

REGINALD MILFORD-STOKES
     
     
    … und in ihrem Gesicht geschah eine Veränderung, die mich bestürzte. Das schutzlose, schwache, vom Schicksalsschlag niedergedrückte Lämmlein verwandelte sich wie durch die Berührung eines Zauberstabs in eine Wölfin. Die Schultern reckten sich, das Kinn ging nach oben, die Augen bekamen ein gefährliches Feuer, und die Nasenflügel bebten. Es war, als hätten wir ein Raubtier vor uns – nein, keine Wölfin, sondern eines aus der Katzenfamilie, eine Pantherin oder Löwin, die frisches Blut wittert. Ich prallte unwillkürlich zurück. Oh, mein Schutz wurde hier nicht mehr gebraucht!
    Die veränderte Mrs. Kleber warf Fandorin einen so haßlodernden Blick zu, daß selbst dieser undurchdringliche Herr zusammenzuckte.
    Ich verstehe die Gefühle dieser seltsamen Frau sehr gut. Ich habe ja meine Einstellung zu dem infamen Russen auch völlig geändert. Er ist ein furchtbarer Mensch, ein bösartiger Verrückter mit einer perversen Phantasie. Wie konnte ich ihm nur Vertrauen und Achtung entgegenbringen? Unglaublich.
    Ich weiß einfach nicht, wie ich Ihnen dies schreiben soll, liebste Emily. Die Feder in meiner Hand zittert vor Empörung … Eigentlich wollte ich es Ihnen verschweigen, aber nun schreibe ich es doch, sonst wird für Sie nicht verständlich, warum meine Einstellung zu Fandorin eine solche Metamorphose durchgemacht hat.
    Gestern nacht, nach all den Aufregungen und Erschütterungen,
die ich Ihnen schon geschildert habe, gab es zwischen Fandorin und mir ein überaus sonderbares Gespräch, das mich in Wut und traurige Verständnislosigkeit versetzte. Er kam zu mir, dankte mir für die Rettung des Schiffs, und dann redete er mit falscher Anteilnahme, bei jedem Wort stotternd, unvorstellbaren, ungeheuerlichen Blödsinn. Er sagte folgendes, ich habe es Wort für Wort behalten: »Ich weiß von Ihrem Kummer, Sir Reginald. Kommissar Coche hat mir schon vor längerem alles erzählt. Es geht mich natürlich nichts an, und ich konnte mich lange nicht entschließen, das Gespräch darauf zu bringen, aber ich sehe, wie Sie leiden, und kann nicht gleichgültig bleiben. Ich erlaube mir, davon zu sprechen, weil ich selbst einen ebensolchen Kummer überstanden habe. Wie Ihnen jetzt, drohte mir der Verlust der Urteilskraft. Ich bewahrte meinen Verstand und schärfte ihn sogar, bezahlte jedoch mit einem großen Stück meines Herzens. Glauben Sie mir, in Ihrer Situation gibt es keinen anderen Weg. Weichen Sie nicht der Wahrheit aus, so furchtbar sie auch sein mag, und verstecken Sie sich nicht hinter einer Illusion. Und vor allem, machen Sie sich keine Vorwürfe. Es war nicht Ihre Schuld, daß die Pferde durchgingen und daß Ihre schwangere Frau aus der Kutsche fiel und zu Tode kam. Es ist eine schwere Prüfung, die Ihnen auferlegt wurde. Ich weiß nicht, welche Absicht das Schicksal mit dieser Grausamkeit verfolgt, aber ich weiß eines: Die Prüfung muß bestanden werden. Sonst ist alles zu Ende, und die Seele zerfällt.«
    Ich habe gar nicht gleich begriffen, was dieser Schuft meinte. Dann ging es mir auf! Er bildete sich ein, daß Sie, meine kostbare Emily, gestorben wären! Sie wären in schwangerem Zustand aus der Kutsche gefallen und zu Tode gekommen! Wäre ich nicht so entrüstet gewesen, so würde ich dem übergeschnappten Diplomaten ins Gesicht
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