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Mord auf der Leviathan

Mord auf der Leviathan

Titel: Mord auf der Leviathan
Autoren: Boris Akunin
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betraten, sahen Sie den riesigen Neger in Ihren Sachen wühlen, und im ersten Moment erschraken Sie, wenn Sie das Gefühl der Angst überhaupt kennen. Aber im nächsten Moment erzitterten Sie vor Freude, denn der Wilde trug das berühmte Tuch um den H-hals. Nun war alles klar: Der flüchtige Sklave hatte beim Stöbern in Regniers Kabine Gefallen an dem bunten Stück Stoff gefunden und beschlossen, seinen mächtigen Hals damit zu schmücken. Auf Ihren Schrei kam Regnier hereingelaufen, sah das Tuch, verlor die Beherrschung und zog seinen Marinedolch. Sie mußten die Geschichte mit dem angeblichen Überfall erfinden – sich auf den Fußboden legen und den sch-schweren, noch warmen Körper des Toten über sich ziehen. Das war doch bestimmt nicht sehr angenehm, oder?«
    »Erlauben Sie, das sind doch alles reine Vermutungen!« widersprach Milford-Stokes hitzig. »Natürlich hat der Neger Madame Kleber überfallen, das ist doch offenkundig! Sie phantasieren schon wieder, Herr russischer Diplomat!«
    »Nicht im geringsten«, entgegnete Fandorin freundlich und sah den Baronet traurig oder mitleidig an. »Ich habe doch ges-sagt, daß ich schon früher Sklaven vom Volk der Ndanga gesehen habe, in türkischer Gefangenschaft. Wissen Sie, warum die im Orient so geschätzt werden? Weil sie große Kraft und Ausdauer besitzen, sich durch ein sanftes, gutartiges Wesen auszeichnen und absolut nicht zur Aggression neigen. Sie sind ein Stamm von Ackerbauern, nicht von Jägern, und sie haben noch nie Krieg geführt. Ein Ndanga konnte sich nicht auf Madame Kleber stürzen, nicht mal im Schreck. Selbst Monsieur Aono hat sich g-gewundert, daß die Finger des Wilden keine blauen Flecke auf Ihrem Hals hinterließen. Ist das nicht seltsam?«
    Renate senkte nachdenklich den Kopf, als wunderte sie sich auch darüber.
    »Nun zu dem Mord an Professor Sweetchild. Kaum stand fest, daß der Indologe kurz vor der Enträtselung war, da haben Sie, Madame, ihn gebeten, sich Zeit zu nehmen und alles von Anfang an und ausführlich zu erzählen, und derweil schickten Sie Ihren Komplizen weg, angeblich nach dem Schal, in Wirklichkeit aber, um den Mord vorzubereiten. Er verstand Sie ohne Worte.«
    »Falsch!« rief Renate laut. »Meine Herren, Sie alle sind Zeugen! Regnier hat sich selbst erboten! Erinnern Sie sich? Nun, Monsieur Milford-Stokes, ich hatte Sie zuerst gebeten, wissen Sie noch?«
    »Stimmt«, bestätigte der Baronet. »So war es.«
    »Ein T-trick für Dumme.« Fandorin winkte mit dem Obstmesser ab. »Sie wußten genau, Madame, daß der Brite Sie nicht leiden konnte und nie Ihren Launen nachkam. Sie haben die Operation wie immer geschickt ins Werk gesetzt, aber diesmal leider nicht sauber genug durchgeführt. Die Schuld auf Monsieur Aono abzuwälzen ist Ihnen nicht gelungen, obwohl Sie Ihrem Z-ziel recht nahe waren.« Hier senkte Fandorin bescheiden den Blick, damit die Zuhörer sich erinnern konnten, wer es gewesen war, der die Beweiskette gegen den Japaner zerrissen hatte.
    Er ist nicht frei von Eitelkeit, dachte Clarissa, aber sie fand diesen Zug ganz liebenswert, ja, er erhöhte sogar noch die Attraktivität des jungen Mannes. Das Paradox aufzulösen half wie gewöhnlich die Poesie:
     
    Selbst Schwächen unseres geliebten Wesens
    erscheinen würdig in der Liebe Augen.
     
    Ach, Mr. Diplomat, Sie kennen die Engländerinnen schlecht. Ich vermute, Sie werden in Kalkutta einen längeren Aufenthalt einlegen.
    Fandorin machte eine Pause – er ahnte nicht, daß er ein »geliebtes Wesen« sei und später als angenommen in seinem Dienstort eintreffen würde – und fuhr dann fort: »Ihre Situation wurde jetzt wirklich kritisch. Regnier hat es recht p-plastisch in seinem Brief ausgemalt. Daraufhin faßten Sie den furchtbaren, aber auf seine Art genialen Entschluß: das Schiff mitsamt dem wissensdurstigen Polizeikommissar, den Zeugen und noch tausend Menschen als Zugabe zu versenken. Was bedeutete Ihnen das Leben von tausend Menschen, wenn die Sie hinderten, die reichste Frau der Welt zu werden? Schlimmer noch – wenn die Ihr Leben und Ihre Freiheit bedrohten.«
    Clarissa sah Renate mit abergläubischem Entsetzen an. Sollte diese junge Frau, die ein bißchen gemein, aber insgesamt durchschnittlich war, zu solch ungeheuerlichem Verbrechen fähig sein? Undenkbar! Aber Fandorin nicht zu glauben war auch unmöglich. Er war so überzeugend und so schön!
    Über Renates Wange rann eine bohnengroße Zähre. In ihren Augen stand stummes Flehen: Wofür quält
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