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Mord auf der Leviathan

Mord auf der Leviathan

Titel: Mord auf der Leviathan
Autoren: Boris Akunin
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    Wenn aber die Todesursache Lord Littlebys (Leiche Nr. 10) klar ist und nur die Gewalt des Schlags, der den Schädelknochen in sieben Trümmer spaltete, als ungewöhnlich anzusehen ist, so war das Bild bei den Leichen Nr. 1–9 weniger deutlich und erforderte nicht nur eine Obduktion, sondern auch eine chemische Laboruntersuchung. Die Aufgabe wurde ein wenig dadurch erleichtert, daß J. Lesage (Nr. 7) zunächst noch lebte. Nach einigen charakteristischen Merkmalen (Pupillen wie Stecknadelköpfe, flacher Atem, kalte klebrige Haut, gerötete Lippen und Ohrläppchen) könnte man auf Morphiumvergiftung tippen. Leider waren wir bei der ersten Untersuchung am Tatort von der scheinbar offenkundigen Version der oralen Gifteinnahme ausgegangen und hatten deshalb nur die Mundhöhle und den Rachen der Toten sorgfältig untersucht. Als wir dort nichts Pathologisches fanden, gerieten wir in eine Sackgasse. Erst bei der Untersuchung im Schauhaus wurde bei jeder der neun Leichen ein kaum sichtbarer Injektionseinstich in der linken Ellenbeuge entdeckt. Obwohl das meine Kompetenz übersteigt, erlaube ich mir, mit hinreichender Überzeugung anzunehmen, daß die Injektionen von einer Person gemacht wurden, die mit solchen Prozeduren große Erfahrung hat. Zu dieser Schlußfolgerung führten mich zwei Umstände: 1. Die Injektionen wurden höchst akkurat ausgeführt, und keine der Leichen wies ein Hämatom auf. 2. Die narkotische Bewußtlosigkeit tritt normalerweise nach drei Minuten ein, und das bedeutet, daß alle neun Injektionen innerhalb dieser Zeit erfolgten. Entweder waren mehrere Täter am Werk (wenig wahrscheinlich) oder nur einer mit wahrhaft erstaunlicher Fertigkeit, selbst wenn wir davon ausgehen, daß er zuvor für jeden eine aufgezogene Spritze bereitgelegt hatte. In der Tat ist schwer vorstellbar, daß jemand mit gesundem Menschenverstand den Arm für die Injektion hinhält, wenn vor seinen Augen schon ein anderer das Bewußtsein verloren hat. Mein Assistent Maître Joly ist allerdings der Meinung, alle diese Leute könnten in einem Zustand der hypnotischen Trance gewesen sein, aber in meiner langjährigen Arbeit ist mir noch nichts Derartiges vorgekommen. Ich möchte die Aufmerksamkeit des Herrn Kommissars auch darauf lenken, daß die Leichen Nr. 7–9 in einer Haltung dalagen, die auf Erschrecken hindeutete. Ich vermute, die drei bekamen die Injektionen als letzte (oder sie hatten größere Widerstandskraft) und begriffen, bevor sie das Bewußtsein verloren, daß mit den anderen Bediensteten etwas Verdächtiges geschah. Die Laboranalyse hat ergeben, daß bereits ein Drittel der verabfolgten Morphiumdosis zum Tode geführt hätte. Nach dem Zustand der Leiche des 6-jährigen Mädchens zu urteilen, das als erste sterben mußte, wurden die Injektionen am 15. März zwischen zwischen 21 und 22 Uhr gegeben.
    ZEHN LEBEN FÜR EINE GOLDENE GOTTESFIGUR!
     
    Ein entsetzliches Verbrechen in einem vornehmen Wohnviertel
     
    Heute, am 16. März, spricht ganz Paris von dem Verbrechen, welches das Blut in den Adern gefrieren läßt und die wohlgesittete Stille in der aristokratischen Rue de Grenelle zerrissen hat. Der Korrespondent der »Revue Parisienne« eilte an den Ort der Tragödie und ist bereit, die berechtigte Neugier unserer Leser zu befriedigen.
     
    Heute früh läutete der Postbote Jacques Le Chien wie gewöhnlich kurz nach sieben an der Tür der eleganten zweigeschossigen Villa, die dem bekannten britischen Kunstsammler Lord Littleby gehört. Als der Türsteher Carpentier, der die Post für Seine Erlaucht stets persönlich entgegennimmt, nicht öffnete, wunderte sich Herr Le Chien. Er bemerkte, daß die Eingangstür nur angelehnt war, und betrat die Diele. Gleich darauf rannte der 70 jährige Postveteran mit wildem Geheul zurück auf die Straße. Die alarmierte Polizei entdeckte im Hause ein wahres Totenreich – sieben Bedienstete und zwei Kinder (den 11jährigen Sohn des Haushofmeisters und die 6 jährige Enkelin der Haushälterin) im ewigen Schlaf. Die Polizisten stiegen zum ersten Stock hinauf und fanden den Hausherrn, Lord Littleby, in einer Blutlache. Er war in der Schatzkammer ermordet worden, in der er seine berühmte Sammlung fernöstlicher Raritäten aufbewahrte. Der 55jährige Engländer war in der vornehmen Gesellschaft unserer Hauptstadt kein Unbekannter. Er galt als Exzentriker und Eigenbrötler, doch Archäologen und Orientologen sahen in Lord Littleby einen seriösen Kenner der indischen
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