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Mord auf der Leviathan

Mord auf der Leviathan

Titel: Mord auf der Leviathan
Autoren: Boris Akunin
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von Wahnsinn.
    Ob wir wohl irgendwann die wahren Hintergründe dieser grauenhaften, unfaßbaren Geschichte erfahren?
     
    EIN ALBUM PARISER SCHÖNHEITEN
     
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ERSTER TEIL

PORT SAID – ADEN
     

KOMMISSAR COCHE
     
     
    In Port Said kam ein neuer Passagier an Bord der »Leviathan«, er hatte die letzte freie Kabine der ersten Klasse, die Nr. 18, und Gustave Coches Stimmung besserte sich sogleich. Der Neue sah vielversprechend aus: zurückhaltende und gemessene Bewegungen, undurchdringliche Miene, ein schönes Gesicht, das auf den ersten Blick ganz jung wirkte, doch als er die Melone abnahm, kamen überraschend weiße Schläfen zum Vorschein. Interessantes Exemplar, entschied der Kommissar. Man sieht sofort, ein Mann mit Charakter und, wie man so sagt, mit Vergangenheit. Zweifellos ein Kunde für Coche.
    Der Passagier kam die Schiffstreppe hoch und schwenkte eine Reisetasche. Schwitzende Träger schleppten sein ansehnliches Gepäck: teure knarrende Koffer, gediegene Taschen aus Schweinsleder, umfangreiche Bücherpakete und sogar ein Klappfahrrad (ein großes und zwei kleine Räder und ein Bündel blanke Metallrohre). Den Zug beschlossen zwei arme Kerle, die sich mit eindrucksvollen Hanteln plagten.
    Das Herz des Kommissars Coche, dieses alten Spürhundes (wie er sich gern selbst nannte), erbebte vor Jagdeifer, als er bei dem Neuen nicht das goldene Abzeichen mit dem Wal sah, nicht auf dem seidenen Revers des stutzerhaften Sommerpaletots, nicht am Jackett und auch nicht an der Uhrkette. Warm, ganz warm, dachte Coche, während er den Fant unter buschigen Augenbrauen hervor beobachtete und dabei sein geliebtes Tonpfeifchen paffte. Wieso war er eigentlich davon ausgegangen, daß der Mörder den Dampfer in Southhampton besteigen würde? Das Verbrechen war am 15. März verübt worden, und heute war schon der 1. April. Er konnte nach Port Said gefahren sein, während die »Leviathan« Westeuropa umschiffte. Paßte doch alles zusammen: vom Typ her verdächtig plus Ticket erster Klasse plus das Wichtigste – er hatte keinen goldenen Wal.
    Das verfluchte Abzeichen mit der Abbreviatur der Dampfschiffahrtsgesellschaft »Jasper & Arthaud Partnership« erschien Coche seit einiger Zeit schon in seinen nächtlichen Träumen, und die waren ungewöhnlich scheußlich, zum Beispiel der letzte.
    Der Kommissar rudert in einem Boot mit Madame Coche im Bois de Boulogne. Die liebe Sonne scheint, die Vögel zwitschern. Plötzlich glotzt über die Baumwipfel hinweg eine gigantische goldschimmernde Visage mit sinnleeren runden Augen, sperrt den Rachen auf, in dem der Arc de Triomphe Platz fände, und fängt an, den Teich leerzusaugen. Coche legt sich schweißüberströmt in die Riemen. Nun stellt sich heraus, daß sich das Ganze nicht im Bois abspielt, sondern in einem uferlosen Ozean. Die Riemen biegen sich wie Strohhalme, Madame Coche stößt ihm schmerzhaft den Schirm in den Rücken, und das gewaltige funkelnde Ungeheuer verdeckt den Horizont. Schließlich spuckt es eine Fontäne in den Himmel, da erwachte der Kommissar und tastete mit flatternder Hand auf dem Nachttisch nach der Pfeife und den Zündhölzern.
    Zum erstenmal hatte Coche den goldenen Wal in der Rue de Grenelle gesehen, als er die Leiche von Lord Littleby untersuchte. Der Engländer lag da, den Mund in einem stummen Schrei aufgerissen, die Zahnprothese war halb herausgerutscht, der Kopf oberhalb der Stirn war ein blutiger Brei. Coche hockte sich hin, denn ihn deuchte, daß zwischen den Fingern des Toten etwas golden blinkte, und als er sah, was es war, brummte er vor Vergnügen. Ganz von selbst war ihm ein höchst seltener Erfolg zugefallen, wie er nur in Kriminalromanen vorkommt. Der Leichnam hatte ihm gescheiterweise ein wichtiges Beweisstück zugespielt. Da, Gustave, nimm. Und wage es nicht, den Mann entkommen zu lassen, der mir die Rübe zertrümmert hat, sonst sollst du platzen vor Scham, du alter Krauter.
    Das goldene Abzeichen (Coche hatte zunächst nicht gewußt, daß es ein solches war, er hatte es für eine Berlocke oder eine Anstecknadel mit dem Monogramm des Besitzers gehalten) konnte nur dem Mörder gehören. Für alle Fälle zeigte der Kommissar den Wal Lord Littlebys jüngstem Lakaien (der hatte zu seinem Glück am 15. März frei gehabt, was ihm das Leben rettete), aber
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