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Mord auf der Leviathan

Mord auf der Leviathan

Titel: Mord auf der Leviathan
Autoren: Boris Akunin
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kleine Details, unwichtig, ein anderer würde sie gar nicht bemerken, doch der alte Spürhund Coche hatte scharfe Augen. Miss Stomp trug teure Kleider und Kostüme nach der letzten Pariser Mode. Sie besaß ein Täschchen aus Schildpatt (er hatte solch ein Stück in einem Schaufenster auf den Champs Elysées gesehen – dreihundertfünfzig Francs), doch ihr Notizbuch war alt und billig, aus einem Schreibwarenladen. Einmal saß sie bei windigem Wetter an Deck, in einen Schal gewickelt, Madame Coche besaß genau den gleichen, aus Hundewolle, der hielt warm, war aber nichts für eine englische Lady. Interessant: Die neuen Sachen dieser Clarissa Stomp waren sämtlich teuer, die alten aber billig, von niedrigster Qualität. Das paßte nicht zusammen. Einmal beim Five o’Clock Tea hatte Coche sie gefragt: »Warum stecken Sie den goldenen Wal nie an, gnädige Frau? Gefällt er Ihnen nicht? Ich finde ihn schick.« Da war sie – man denke! – rot angelaufen wie der »japanische Edelmann« und hatte gesagt, sie hätte ihn schon getragen, das habe er nur übersehen. Sie log, Coche würde es bemerkt haben. Ihm kam ein raffinierter Gedanke, aber dazu mußte ein psychologisch geeigneter Moment abgepaßt werden. Wollen doch mal sehen, wie sie reagiert, diese Clarissa.
    Da es am Tisch zehn Plätze gab, aber nur vier Personen ohne das Abzeichen waren, hatte sich Coche entschlossen, den Kreis der Verdächtigen um Personen zu erweitern, die zwar den Wal trugen, aber auf ihre Weise auffällig waren.
    Als erstes verlangte er vom Kapitän, den Schiffsarzt Monsieur Truffo im Salon »Hannover« unterzubringen. Cliff gab knurrend nach. Warum Coche den Arzt wollte, war verständlich: Der war der einzige Mediziner auf der »Leviathan«, er war mit Injektionen vertraut, und das goldene Abzeichen stand ihm bei seinem Status zu. Er erwies sich als ein kleingewachsener, rundlicher Italiener mit olivfarbener Haut und einer Glatze, die von spärlichen, nach hinten gekämmten Haaren umkränzt wurde. Coche hatte nicht genug Phantasie, um sich diese komische Gestalt in der Rolle des gnadenlosen Killers vorzustellen. Auch der Gattin des Doktors mußte ein Platz eingeräumt werden. Das Paar hatte erst vor zwei Wochen geheiratet und wollte das Nützliche mit dem Angenehmen verbinden, das heißt, den Dienst mit der Hochzeitsreise. Die Auserwählte des Schiffsäskulaps, eine fade, niemals lächelnde Engländerin, wirkte doppelt so alt wie ihre fünfundzwanzig. Sie erfüllte Coche mit tödlicher Langeweile, wie übrigens die meisten ihrer Landsmänninnen. Er taufte sie sogleich »das Schaf« wegen ihrer weißen Wimpern und ihrer blökenden Stimme. Im übrigen tat sie den Mund nur selten auf, da sie des Französischen nicht mächtig war, und die Gespräche im Salon wurden gottlob zumeist in dieser edlen Sprache geführt. Das Abzeichen besaß Madame Truffo nicht, aber das war natürlich – sie war weder Offizier noch Fahrgast.
    Darüber hinaus hatte der Kommissar in der Passagierliste einen Indologen und Archäologen namens Professor Antony F. Sweetchild gefunden, der konnte ihm zupaß kommen. Der ermordete Littleby war ja in gewissem Sinne sein Kollege gewesen. Mister Sweetchild, ein schlaksiger Lulatsch mit runden Brillengläsern und einem Ziegenbärtchen, kam gleich am ersten Abend auf Indien zu sprechen. Nach dem Essen nahm Coche den Professor beiseite und brachte das Gespräch behutsam auf die Sammlung von Lord Littleby. Der Gelehrte nannte den Verstorbenen herablassend einen Dilettanten und dessen Kollektion ein Raritätenkabinett, das ohne jedwede wissenschaftliche Kompetenz zusammengetragen worden sei. Der einzige Gegenstand von Wert sei der goldene Schiwa gewesen. Gut, daß der sich von selbst wieder angefunden habe, denn die französische Polizei verstehe sich bekanntlich nur aufs Einraffen von Schmiergeld. Bei dieser himmelschreiend ungerechten Bemerkung hustete Coche ärgerlich, worauf Sweetchild ihm lediglich anempfahl, weniger zu rauchen. Weiterhin sagte der Gelehrte nachsichtig, daß Littleby wohl eine passable Sammlung von bemalten Stoffen und Tüchern besessen habe, unter denen hochinteressante Exemplare seien, doch das falle eher in den Bereich einheimischen Handwerks und angewandter Kunst. Ganz ordentlich sei auch eine Sandelholzschatulle aus dem 16. Jahrhundert aus Lahore mit Schnitzwerk nach Motiven des Mahabharata-Epos – und dann verstieg er sich in solches Geschwätz, daß dem Kommissar die Augen zufielen.
    Alsbald nahm der
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