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Mord auf der Leviathan

Mord auf der Leviathan

Titel: Mord auf der Leviathan
Autoren: Boris Akunin
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erschienen, und das bedeutete, daß der Verbrecher trotz des verlorenen Abzeichens auch schon da war. Er mußte die Polizisten für komplette Idioten halten. Oder hoffte er, in der Menge der Passagiere unterzutauchen? Oder hatte er keinen anderen Ausweg?
    Eines war klar: Coche mußte mitschippern bis Le Havre. Man wies ihm eine Reservekabine zu, die eigentlich für Ehrengäste der Dampfschiffahrt vorgesehen war.
    Gleich nach dem Ablegen fand im großen Saal der ersten Klasse ein Bankett stand, auf das der Kommissar besondere Hoffnungen setzte, weil in den Einladungen gestanden hatte: »Eintritt bei Vorlage des goldenen Abzeichens oder des Tickets erster Klasse.« Wer würde schon mit dem Ticket in der Hand kommen, wo es doch viel einfacher war, den schönen goldenen Wal anzustecken.
    Während des Banketts tastete Coche ungeniert jeden Gast mit dem Blick ab. Bei einigen Damen mußte er die Nase ins Decolleté stecken. Was hing da am Goldkettchen, der Wal oder nur ein Edelstein? Das mußte er doch prüfen!
    Alle tranken Champagner, nahmen sich Leckerbissen von den Silbertabletts und tanzten, Coche hingegen arbeitete: Er strich diejenigen aus der Liste, die das Abzeichen trugen. Die meisten Scherereien hatte er mit den Männern. Viele von ihnen hatten den Wal an der Uhrkette befestigt und in die Westentasche gesteckt. Der Kommissar mußte elfmal nach der Uhrzeit fragen.
    Überraschung Nummer drei: Alle Offiziere trugen das Abzeichen, doch vier Passagiere hatten keinen Wal, davon zwei Damen! Der Schlag aber, der Lord Littlebys Schädel zertrümmert hatte wie eine Nußschale, war so stark gewesen, daß nur ein Mann ihn geführt haben konnte, und zwar ein sehr kräftiger. Andererseits wußte der in Kriminalfällen überaus erfahrene Kommissar, daß auch ein schwaches Dämchen im Affekt oder in hysterischer Erregung wahre Wunder vollbringen kann. Ein Beispiel war zur Hand. Vor Jahresfrist hatte eine Modistin aus Neuilly, eine zarte Person, ihren ungetreuen Liebhaber aus ihrem Fenster im dritten Stock geworfen, einen wohlgenährten Rentier, doppelt so dick und anderthalbmal so groß wie sie selbst. Darum durfte Coche die Frauen ohne Abzeichen nicht aus der Zahl der Verdächtigen ausschließen. Aber wo hätte man je gesehen, daß eine Dame der Gesellschaft so routiniert Injektionen verabreichen konnte?
    Wie dem auch sei, die Untersuchung an Bord der »Leviathan« versprach, sich in die Länge zu ziehen, und der Kommissar ging wie immer gründlich vor. Der Kapitän Jesaja Cliff war als einziger der Schiffsoffiziere in das Geheimnis des Falles eingeweiht und hatte von der Führung der Company die Weisung erhalten, dem französischen Gesetzeshüter jedwede Unterstützung angedeihen zu lassen. Von diesem Privileg machte Coche aufs unverfrorenste Gebrauch: Er verlangte, daß die ihn interessierenden Personen in demselben Salon plaziert würden.
    An dieser Stelle sei angemerkt, daß die Reisenden der ersten Klasse aus Gründen der Privatsphäre und des Wohlbehagens (in der Reklame für das Schiff hieß es: »Sie genießen die Atmosphäre eines alten englischen Landsitzes«) nicht in dem riesigen Speisesaal zusammen mit den sechshundert Trägern des volkstümlichen Silberwals ihre Mahlzeiten einzunehmen brauchten, sondern auf komfortable »Salons« verteilt wurden, von denen jeder einen eigenen Namen trug und vornehm ausgestattet war: Kristalleuchter, gebeizte Eiche und Mahagoni, Samtstühle, gleißendes Tafelsilber, gepuderte Kellner und flinke Stewards. Kommissar Coche guckte sich für seine Zwecke den Salon »Hannover« aus, der im Oberdeck am Schiffsbug gelegen war; drei Wände bestanden aus Glasfenstern, das ergab einen trefflichen Rundblick, und selbst an trüben Tagen mußte kein Licht gemacht werden. Der Samt war hier goldbraun, und die Leinenservietten trugen das Wappen des Königshauses Hannover.
    Rund um den ovalen Tisch mit den am Fußboden festgeschraubten Beinen (für den Fall starken Wellengangs) standen zehn Stühle mit hohen geschnitzten Lehnen. Es gefiel dem Kommissar, daß alle an einem Tisch sitzen würden, und er wies den Steward an, die Namensschildchen so aufzustellen, daß die vier Passagiere ohne Abzeichen ihm gegenüber zu sitzen kämen, so daß er sie bestens im Blick hätte. Den Kapitän wollte er an der Stirnseite der Tafel plazieren, aber daraus wurde nichts. Mister Cliff wünschte nicht, wie er sich ausdrückte, »bei diesem Theater mitzuspielen«, und etablierte sich im Salon »Yorck«, wo der neue
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