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Mord auf der Leviathan

Mord auf der Leviathan

Titel: Mord auf der Leviathan
Autoren: Boris Akunin
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eine anständige Pension bezog, würden er und Madame Coche irgendwo in der Normandie ein Häuschen kaufen. Der Pariser Flic im Ruhestand würde angeln und eigenen Cidre keltern. War das nichts? Nun ja, ein bißchen Kapital zu der Pension wäre nicht schlecht, so um die zwanzigtausend …
    Er sah sich genötigt, noch einmal in die Stadt zu fahren, bloß gut, daß das Schiff noch auf die Einfahrt in den Suezkanal warten mußte, und schickte ein Telegramm an die Präfektur: Kennt man in Paris den russischen Diplomaten E. P. Fandorin und ist er in letzter Zeit in die französische Republik eingereist?
    Die Antwort kam prompt, nach zweieinhalb Stunden. Ja, er war eingereist, der Gute, sogar zweimal. Das erstemal im Sommer 1876 (na schön) und das zweitemal im Dezember 1877, also vor drei Monaten. Er war aus London gekommen und von der Paß- und Zollkontrolle in Pas de Calais registriert worden. Wie lange er sich in Frankreich aufgehalten hatte, war nicht bekannt. Durchaus möglich, daß er am 15. März noch in Paris gewesen war. Womöglich hatte er mit einer Spritze in der Hand in der Rue de Grenelle vorbeigeschaut?
    Es mußte somit ein Platz bei Tisch frei gemacht werden. Am besten wäre es natürlich, sich der Arztgattin zu entledigen, aber ein Anschlag auf das geheiligte Institut der Ehe kam nicht in Betracht. Nach einigem Überlegen entschloß sich Coche, den Teehändler in einen anderen Salon umzusetzen, da er den theoretischen Hoffnungen nicht entsprach und kein aussichtsreicher Kandidat war. Das sollte der Steward erledigen: Es gebe da ein Plätzchen in einem anderen Salon mit honorigeren Herrschaften oder hübscheren Dämchen. Dazu war der Steward schließlich da, solche Dinge zu arrangieren.
    Das Erscheinen des neuen Passagiers im Salon kam einer kleinen Sensation gleich, denn während der Reise waren alle schon einander recht überdrüssig geworden, und nun zeigte sich ein frischer Herr, noch dazu ein so imposanter. Nach dem armen Monsieur Boileau, Vertreter einer Zwischenstufe der Evolution, fragte niemand. Der Kommissar vermerkte, daß die alte Jungfer Clarissa Stomp am lebhaftesten reagierte – sie kam plötzlich auf Künstler, Theater und Literatur zu sprechen. Coche selbst setzte sich in seiner Freizeit gern mit einem Buch in seinen Sessel, wobei er allen anderen Autoren Victor Hugo vorzog, der war lebensecht und erhaben und anrührend. Und nach der Lektüre schlief man bestens. Aber von den russischen Autoren mit den zischelnden Namen hatte Coche natürlich nie gehört, da konnte er nicht mitreden. Allerdings mühte sich die englische Schrulle vergebens, Monsieur Fandorin war viel zu jung für sie.
    Renate Kleber blieb ebenfalls nicht untätig, sie unternahm den Versuch, den Neuling in die Zahl der ihr dienstbaren Männer einzureihen, die sie gnadenlos scheuchte, ihr mal den Schirm, mal den Schal, mal ein Glas Wasser zu holen. Schon fünf Minuten nach Beginn des Abendessens weihte sie den Russen in alle Peripetien ihres delikaten Zustands ein, klagte über Migräne und bat Fandorin, Doktor Truffo zu holen, der sich heute verspätete. Aber der Diplomat schien sogleich erkannt zu haben, mit wem er es zu tun hatte, denn er wandte höflich ein, daß er den Doktor nicht von Angesicht kenne. Den Auftrag auszuführen beeilte sich Leutnant Regnier, die ergebenste Kinderfrau der schwangeren Bankiersgattin.
    Der erste Eindruck von Erast Fandorin sah so aus: wortkarg, zurückhaltend, höflich. Für Coches Geschmack war er gar zu geschniegelt. Der gestärkte Kragen stand wie aus Alabaster, in dem seidenen Halstuch steckte eine Perlnadel, und im Knopfloch des Revers prangte (ach du Donner) eine blutrote Nelke. Das Haar war sorgfältig gescheitelt und gekämmt, die Fingernägel waren gepflegt, und der schmale schwarze Schnurrbart sah aus wie mit Kohlestift gezeichnet.
    Aus dem Schnurrbart eines Mannes lassen sich viele Schlüsse ziehen. Wenn er so aussieht wie bei Coche – walroßartig, an den Mundwinkeln herabhängend –, ist der Mann gescheit, kennt seinen Wert, ist kein Leichtfuß, mit Talmi nicht zu ködern. Ist er aufwärts gezwirbelt, noch dazu spitz auslaufend, dann ist sein Träger ein Schürzenjäger und Bonvivant. Geht er in den Backenbart über, so ist sein Besitzer ehrgeizig und träumt davon, General, Senator oder Bankier zu werden. Nun, und ein Schnurrbart wie der Fandorins deutet auf eine romantische Vorstellung von der eigenen Person.
    Was ließ sich noch sagen über den Russen? Sein Französisch war
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