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Mord auf der Leviathan

Mord auf der Leviathan

Titel: Mord auf der Leviathan
Autoren: Boris Akunin
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in der Welt ist! Wir werden auf dem ganzen Planeten Ordnung schaffen!«
    Miss Stomp ist eine kluge Frau. In der Tat, die Zivilisation
würde nur gewinnen, wenn eine so phantastische Summe unseren Staatsschatz bereicherte. Schließlich ist Britannien das fortgeschrittenste und freieste Land auf dem Erdball. Alle Völker würden nur gewinnen, wenn sie die britische Lebensart übernähmen.
    Aber Mr. Truffo vertrat eine andere Meinung. »Diese anderthalb Milliarden französische Francs werden es Frankreich ermöglichen, sich nicht nur von den tragischen Folgen des Krieges mit Deutschland zu erholen, sondern auch die modernste, bestausgerüstete Armee Europas zu schaffen. Ihr Engländer wart niemals Europäer, ihr seid Insulaner! Die Interessen Europas sind euch fremd und unbegreiflich. Monsieur de Perrier, bis vor kurzem Zweiter Offizier und derzeit provisorischer Chef der ›Leviathan‹, wird nicht zulassen, daß das Tuch den Engländern in die Hände fällt. Ich werde ihn sofort holen, und er wird es im Safe der Kapitänskabine verwahren.«
    Dann sprachen alle durcheinander, versuchten einander zu überschreien; der wild gewordene Doktor wagte sogar, mich gegen die Brust zu stoßen, und Mrs. Kleber trat Miss Stomp gegen den Knöchel.
    Da nahm Fandorin einen Teller vom Tisch und schmetterte ihn krachend zu Boden. Alle starrten ihn entgeistert an, und der schlaue Russe sagte: »So werden wir unsere Probleme nicht lösen, meine Damen und Herren. Sie haben sich zu sehr ereifert. Ich schlage vor, den Salon zu lüften, es ist sehr stickig hier.«
    Er trat zu den Fenstern der Leeseite und öffnete eines nach dem anderen. Als er das Fenster über dem kleinen Tisch aufriß, auf dem das Tuch lag, geschah etwas Unerwartetes: Vom Zugwind erfaßt, begann das leichte Gewebe zu wogen und flatterte plötzlich zum Fenster hinaus. Unter allgemeinem Geheul schwebte das seidene Dreieck über das Deck, wiegte sich zweimal über der
Reling, als winkte es uns zum Abschied, dann sank es weich in die Tiefe und in die Ferne. Alle verfolgten wie verzaubert den gemächlichen Flug, der irgendwo zwischen trägen schaumgekrönten Wellen endete.
    »Was bin ich doch ungeschickt«, sagte Fandorin in die eingetretene Grabesstille hinein. »Soviel Geld versunken! Jetzt können weder Britannien noch Frankreich der Welt ihren Willen diktieren. Welch ein Unglück für die Zivilisation! Dabei ist das eine halbe Milliarde Rubel. Das hätte R-rußland genügt, alle seine Auslandsschulden zu bezahlen.«
    Des weiteren geschah folgendes.
    Mrs. Kleber stieß einen irrsinnigen Zischlaut aus, von dem es mir kalt den Rücken hinunterlief, griff ein Obstmesser vom Tisch und warf sich unglaublich flink auf den Russen. Die überraschende Attacke traf ihn unvorbereitet. Die stumpfe Silberklinge zerschnitt die Luft und bohrte sich unterhalb des Schlüsselbeins in Fandorins Brust, aber wohl nicht tief. Das weiße Hemd des Diplomaten färbte sich blutig. Mein erster Gedanke war: Es gibt ja doch einen Gott, und er straft die Übeltäter. Der infame Russe kam zur Besinnung und sprang zur Seite, doch die entfesselte Furie gab sich mit dem ersten Stich nicht zufrieden, sie faßte das Heft fester und holte zu einem neuen Stoß aus.
    Und da verblüffte uns alle der Japaner, der sich an der Diskussion nicht beteiligt und sich überhaupt bislang unauffällig verhalten hatte. Er sprang hoch, fast bis zur Decke, stieß einen kehligen Adlerschrei aus und trat, noch bevor er wieder den Fußboden berührte, Mrs. Kleber mit der Fußspitze gegen das Handgelenk. Diesen Trick hatte ich noch nicht einmal in einem italienischen Zirkus gesehen!
    Das Obstmesser flog zur Seite, der Japaner landete in Hockstellung, Mrs. Kleber wich mit verzerrtem Gesicht zurück und hielt mit der Linken das schmerzende Handgelenk.
    Aber sie dachte gar nicht daran, ihr blutdürstiges Vorhaben aufzugeben! Nachdem sie mit dem Rücken gegen die Standuhr geprallt war (ich schrieb Ihnen von dem Monstrum), bückte sie sich und raffte den Kleidersaum hoch. Mich machte der schnelle Wechsel der Ereignisse ohnehin schon ganz benommen, aber das war zuviel! Ich sah (verzeihen Sie, liebste Emily, daß ich darüber schreibe) einen Knöchel im schwarzen Seidenstrumpf und eine rosa Unterhosenrüsche, und im nächsten Moment richtete sich Mrs. Kleber wieder auf und hatte eine Pistole in der linken Hand, sehr klein, doppelläufig, mit Griffschalen aus Perlmutt.
    Ich wage nicht, Ihnen Wort für Wort wiederzugeben, was diese Person
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