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Moral in Zeiten der Krise

Moral in Zeiten der Krise

Titel: Moral in Zeiten der Krise
Autoren: Horst-Eberhard Richter
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Welches aber ist das Verdrängte in dieser Zeit?

Flexibilität, ein zwielichtiges Machtwort des
Zeitgeistes
    Manchmal hilft ein äußeres Ereignis, sehend zu werden. Da überfällt kürzlich ein verheerendes Erdbeben in Haiti eines der ärmsten Völker der Erde. Es sind die Erben eines trostlosen Sklavenschicksals. In einer Minute vernichtet der Erdstoß 300 000 Menschenleben und zerstört die Lebensgrundlagen von Millionen. Unzählige verwaiste Kinder laufen umher oder liegen verletzt auf dem Boden. Konfrontiert mit den Schreckensbildern werden Menschen in aller Welt von Entsetzen, Angst und Mitleid gepackt. Eine Riesenwelle von Hilfsbereitschaft erfasst in den Völkern Junge wie Alte. Plötzlich erkennen sich alle in den Bildern von Elend und Leid wieder. Es dringt in die Tiefe: So verletzlich und zerbrechlich sind wir alle. Wir fühlen uns schlecht, wenn wir nicht auf der Stelle etwas tun, wenigstens spenden und ein Zeichen geben, dass wir mittragen, dass wir die Opfer nicht allein lassen.
    Was da hochkommt, ist die verdrängte Seite in uns, die wir sonst kaum mehr kennen. Wir fühlen mit denen, die vom Leid gezeichnet sind, und hören dankbar in den Medien denen zu, die vor Ort im Helfen eingespannt sind und die stellvertretend für uns das tun, wonach uns auch zumute ist. Dabei erfahren viele, was in ihnen an Empfindsamkeit, Mitfühlen und Helferimpulsen steckt, wovon ihnen in ihrem Alltag kaum noch etwas zu Bewusstsein kommt. Es ist das, was sonst eher als Schwäche, Sentimentalität und Gutmenschlichkeit zugedeckt wird.
    Aber was in den Menschen durch Haiti geweckt wird, ist nicht nur Mitfühlen, sondern auch ein langeunterdrücktes Unbehagen an einem System zunehmender Manipulation und Unanständigkeit. Es ist ein Widerstreben gegen Unmoral. Nach dem gescheiterten Klimagipfel in Kopenhagen gab es keinen Aufschrei. Aber stille Empörung. 30 Jahre kannten die Verantwortlichen die Warnungen der Klimaforschung, die allen Überprüfungen standhielt. Auch als die Zockerei der Banker und die Schäden der Finanzkrise bekannt wurden, gab es keinen lauten Krach, nur verhaltenen Unmut. Die Menschen sehen sich inzwischen in einer Wirtschaft gefangen, in der theoretisch noch gilt, was praktisch immer weniger befolgt wird. John Steinbeck hat in den siebziger Jahren schon die praktische Umkehr der Werterichtung in der neuen Erfolgsmoral skizziert:
    »Menschliche Eigenschaften wie Güte, Großzügigkeit, Offenheit, Ehrlichkeit, Verständnis und Gefühl sind in unserer Gesellschaft Symptome des Versagens. Dagegen sind Gerissenheit, Habgier, Gewinnsucht, Gemeinheit und Egoismus Merkmale des Erfolges.«
    Das ist kein satirischer Spaß, sondern reale Praxis, und dabei haben die Banker mit ihren verantwortungslosen Luftgeschäften noch nicht einmal etwas Illegales getan. Die Regeln, die solche Auswüchse hätten verhindern können, ersparten ihnen regierende Politiker, die die Freiheit zu schützen versprachen, aber damit auch der Zockerei Tor und Tür öffneten.
    Die windigen Banker sind indes kein Sonderfall. Steinbecks Erfolgstypen tummeln sich überall. Sie werden sogar zum Leitbild einer neuen Managergeneration, heute vielfach trainiert von Ausbildern, die ihnen als allererste Erfolgstugend Flexibilität beibringen. Flexibilitas meint aber Krümmbarkeit, Verbiegbarkeit,hierhin oder dorthin, je nach dem, was gerade gefragt ist. Das verträgt sich allerdings nicht mit Bindungsfähigkeit. Also muss man behaupten: Bindung mache unbeweglich, starr, langweilig. Kein Wunder dann auch, dass solche Flexiblen keinen verlässlichen Charakter ausbilden, denn der braucht Konstanz und Standfestigkeit. Doch wie heißt es heute schon in den Schulen: Du bist das wert, als was du später gebraucht werden wirst, also was man mit dir machen kann.
    Aber Kinder werden nicht dazu geboren, für andere zu funktionieren, sondern um ihr Selbst in und mit der Gemeinschaft zu entfalten. Sie sind nicht Anhängsel der Erwachsenenwelt, sondern brauchen Entfaltungsraum für ihre eigenen Wünsche, Interessen und Begabungen. Kinder wollen lernen und brauchen Anleitung und Halt. Aber sie sind nicht dazu da, das nachzuholen, was die Eltern versäumt haben, oder das wettzumachen, worin ihre Eltern gescheitert sind.
    Ich hatte als Therapeut schon früh mit den Kindern von Eltern zu tun, die ihnen die Folgen eigener falscher Anpassung aufbürdeten, d. h. ihnen die eigenen inneren Brüche als fatales Erbe hinterließen. Und meine therapeutische Aufgabe war es oft,
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