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Moral in Zeiten der Krise

Moral in Zeiten der Krise

Titel: Moral in Zeiten der Krise
Autoren: Horst-Eberhard Richter
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halten.
    Es wird gefragt: Warum haben die allermeisten Opfer über viele Jahre, sogar über Jahrzehnte geschwiegen? Warum haben sie sich nicht schon viel früher durch Offenbarung erleichtert? Wir Therapeuten kennen aus unserer professionellen Erfahrung die Nachhaltigkeit der Traumatisierung durch das Erlittene, die Selbstwert-Konflikte und die Hemmung, die Gnadenhelferin Kirche herauszufordern. Aber noch brennender interessiert ja die Frage: Warum kommt der Gang in die Öffentlichkeit gerade jetzt? Was ist es an der aktuellen gesellschaftlichen Situation, das urplötzlich die Geschädigten wie zu einem kollektiven Aufschrei versammelt? Welcher Anlass steckt hinter der Aktion, die an einen politischen Protest erinnert?
    Offenbar gibt es jedoch keinen auffallenden Anlass. Doch könnte die Flut der Bekenntnisse und Anklagen so heftig und langdauernd aufregen, verwiese sie nicht auf eine tiefer wurzelnde Krankheit? Krankhaft ist aber nicht etwa die Veröffentlichung, vermittelt diese doch Aufdeckung der Wahrheit. Krank war das bisherige Arrangement von vertuschender Kirche und eingeschüchtert schweigenden Opfern. Nun geht der Heilungsprozess von den Opfern aus, die sich selber exponieren und den Tätern die Chance zur Versöhnung geben – Versöhnung im sprachgeschichtlichen Sinn von »Entsündigen«.
    Die bekennenden Opfer ernten, wie sich zeigt, nicht nur Achtung. Sie wecken auch Hoffnung. Man sieht: Missbrauchte sind nicht wehrlos. Könnte das Beispiel nicht ansteckend wirken? Ansteckend für uns alle, die wir missbraucht werden durch fragwürdige Kriege, durch den Risikowahn der Finanzindustrie, durch Umweltzerstörung, unsichere Kernkraftwerke, ungenügende Klimavorsorge, Atomwaffen-Bedrohung und nichtzuletzt durch die ewige Erweiterung der Armutskluft? Ein paar hundert Aufrechte oder sich wieder Aufrichtende haben die Weltmacht Katholische Kirche erschüttert und zur Selbstbesinnung gezwungen.
    Vielleicht gibt es also doch einen Anlass, der zu der Herausforderung der Kirche durch die Enthüllungsoffensive geführt hat. Nämlich die Wahrnehmung eines wachsenden landesweiten Unbehagens über den schleichenden Werteverfall. Die Leute spüren einen Rückgang der Humanität in der Gesellschaft. Sie erkennen immer deutlicher, dass die Bedrohung durch den Terrorismus von außen lange nicht so gefährlich ist wie die psychische Korruption von innen. Umgekehrt ist die Widerstandskraft von Globalisierungskritikern, Attac, Friedensbewegung u. a. dann am stärksten, wenn sie mehr von einem »Pro« als einem »Anti« ausgeht. Vielfach hat sich gezeigt: Unvermeidliche Niederlagen in den Bewegungen halten diejenigen am ehesten aus, in denen der Glaube überwiegt, dass wir die Welt besser machen können, ja müssen – und dass wir mit unserer Anstrengung eine Hoffnung weitergeben, die nicht erlöschen darf.

Zeit für einen moralischen Aufbruch
    Ich habe in einem Überblick über ein halbes Jahrhundert zu zeigen versucht, wie eine scheinbar irreversible moralische Verdorbenheit von einer jungen Generation, belastet mit dem geistigen Hitlererbe, allmählich überwunden werden konnte. Als Familientherapeut habe ich miterlebt, wie Kinder in der inneren Auseinandersetzung mit den ihnen übertragenen Konflikten und Schäden der Eltern zuerst litten, dann aber oft lernten, sich von den falschen verinnerlichten Botschaften zu befreien. Ich war dabei, wie aus antiautoritärer Rebellion bei vielen ein neuer Geist erwachte. Wie Hass in einen humanistischen Reformwillen umschlug, der sich mit einem konstruktiven Verantwortungsbewusstsein paarte. Mit einem Wort: Aus der moralischen Verirrung entstand wieder ein intaktes Gewissen.
    Aus diesem beispielhaften Prozess einer moralischen Gesundung lässt sich ablesen: Es gibt doch immer wieder die Chance zu einer Regeneration. Die Krankheit des moralischen Verfalls lässt sich am wirksamsten dort verhüten oder bekämpfen, wo sie entsteht, nämlich im einzelnen Menschen und zwar in der Phase, in welcher der Heranwachsende die Widerstandskraft seines Gewissens zu erproben hat, das vielen Anpassungszwängen ausgesetzt ist. Dann entscheidet er darüber, in welcher der beiden von John Steinbeck beschriebenen Wertewelten er sich einrichten wird. Es wäre verlockend, anhand von Fallgeschichten aus der Praxis zu nachzuzeichnen, welche Kämpfe in dieser Phase der Über-Ich-Entwicklung zu bestehen sind. Hier sei nur festgehalten: Kindererziehung ist kein Neben-, sondern ein Hauptschauplatz, wo sich
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