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Moral in Zeiten der Krise

Moral in Zeiten der Krise

Titel: Moral in Zeiten der Krise
Autoren: Horst-Eberhard Richter
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engagiert.
    Sie wollen wissen, was sie in dem von sich selbst wiederfinden. Die Schüler interessiert auch, wie meine Frau, die selbst Lehrerin war, sich neben mir bis heute bei den »Frauen für den Frieden« politisch engagiert und dass sie für ihre Flüchtlingshilfe in Kroatien während des Balkankrieges mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet worden ist. Dann stehen wir nach einer solchen Feier mit der Schuljugend und der Lehrerschaft nahe zusammen, als wären wir längst miteinander vertraut. Eben dieses Gefühl der Zusammengehörigkeit ist es, das als Zuversicht nachklingt.
    Nun sind Bergrun und ich 64 Jahre zusammen. Allein dieser lange Zusammenhalt zeigt uns, wie sich die Menschen verändert haben, denen wir mitunter als eine anachronistische Rarität erscheinen, während wir selbst uns normal vorkommen und eher die Bindungsschwäche der Nachfolger bedauern. Während es von außen erscheint, als sei uns manches durch das Festhalten aneinander entgangen, erscheint uns die Unstetigkeit der Heutigen eher als ein Hauptgrund für das Schwinden langfristiger Zukunftsvorsorge. Wir fragen uns immernoch, ob wir vor unseren Eltern bestehen können, erst recht aber, ob wir genügend für die vorsorgen, die uns folgen. Immer noch können wir helfen, die Augen dafür zu öffnen, was in der Innenwelt der Gesellschaft vor sich geht. Dabei bietet das Alter sogar einen Vorteil, den ich genau wie Joseph Weizenbaum gern ausnutze. Die Verabschiedung aus Ämtern befreit von aller Rücksichtsnahme auf vorgesetzte Instanzen. Mit unfreundlichen Gegnern muss man natürlich unverändert rechnen, aber das ist für den Psychoanalytiker ohnehin unausbleiblich. Wie schon Freud vor genau 100 Jahren auf einem Kongress in Nürnberg festgestellt hat, gehört die Provokation von Widerstand sogar zu den Notwendigkeiten gesellschaftskritischer Psychoanalyse. Da hat er gesagt: »Die Gesellschaft muß sich im Widerstand gegen uns befinden, denn wir verhalten uns kritisch gegen sie.« »Wie wir den Einzelnen durch die Aufdeckung des in ihm Verdrängten zu unserem Feinde machen, so kann auch die Gesellschaft die rücksichtslose Bloßlegung ihrer Schäden und Unzulänglichkeiten nicht mit sympathischem Entgegenkommen beantworten.«

Die Angst vor dem Islam
    Das Generalthema, mit dem sich die gesellschaftskritische Psychoanalyse seit je Ärger zuzieht, ist die kollektive Projektion von verdrängtem Selbsthass auf äußere Hassobjekte. Wem dieser Mechanismus Erleichterung bringt, der wehrt sich gegen dessen Aufdeckung und neigt dazu, den Psychoanalytiker den Gegnern beizugesellen. Zur Zeit des atomaren Wettrüstens untergrub ich, wie es hieß, die Wehrbereitschaft des christlichen Abendlandes. Dann verwandelte ich mich in einen vermeintlichen Pro-Islamisten und Sympathisanten des Terrorismus. Solche Verdächtigungen ernte ich automatisch, wenn ich nicht nur für Toleranz werbe, sondern die verdeckte Hassprojektion der Intoleranz beim Namen nenne.
    Seit das »Böse« Moskaus in die islamischen »Schurkenländer« umgezogen ist, kann ich mich allerdings eines hochangesehenen Türken als Bundesgenossen erfreuen, der sowohl mit dem Literaturnobelpreis als auch mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels geehrt worden ist. Die Rede ist von dem türkischen Schriftsteller Orhan Pamuk. Er hat folgenden Text geschrieben:
    »Der Westen hat leider keine Vorstellung von dem Gefühl der Erniedrigung, das eine große Mehrheit der Weltbevölkerung durchlebt und überwinden muss, ohne den Verstand zu verlieren oder sich auf Terroristen, radikale Nationalisten oder Fundamentalisten einzulassen.« Pamuk fährt fort: »Heute ist das Problem des Westens weniger, herauszufinden, welcher Terrorist in welchem Zelt, welcher Gasse, welcher fernen Stadt seine neue Bombe vorbereitet,um dann auf ihn Bomben regnen zu lassen. Das Problem des Westens ist mehr, die seelische Verfassung der Armen, Erniedrigten und stets im ›Unrecht‹ stehenden Mehrheit zu verstehen, die nicht in der westlichen Welt lebt.«
    Sir Peter Ustinov schreibt in seinem letzten Buch Achtung! Vorurteile ähnlich: »Der Terrorismus, der in dem furchtbaren 11. September kulminierte, ist ein Krieg der Armen gegen die Reichen. Der Krieg ist ein Terrorismus der Reichen gegen die Armen.« Fundamentalistische Islamophobie verfällt zusammen mit dem militanten Islamismus in einen Austausch wechselseitiger Hassprojektion. In der Süddeutschen Zeitung (14. 01. 2010) warnte Thomas Steinfeld eindringlich vor
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