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Moral in Zeiten der Krise

Moral in Zeiten der Krise

Titel: Moral in Zeiten der Krise
Autoren: Horst-Eberhard Richter
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gekittet hatte? Und wie kann eine an psychischer Korruption erkrankte westliche Welt sich plötzlich einer ihr abverlangten Friedensfähigkeit sicher sein? Was ist überhaupt der vorübergehende Enthusiasmus wert, den Obama schon vor seiner Wahl weltweit entfacht hatte? Man erinnere sich an die 200 000, die den Besucher im Berliner Tiergarten empfingen und ihn mit »We can, yes, we can!« begrüßt hatten. War das nur Strohfeuer? Oder eine verheißungsvolle Aufbruchstimmung?
    Eine ähnliche Frage hatte sich vor 200 Jahren Immanuel Kant gestellt, als er, siebzigjährig, die europaweite Begeisterung für die Leitideen der Französischen Revolution wahrnahm. Da lag die Kritik der praktischen Vernunft schon hinter ihm, in der er seine Skepsis gegenüber emotionalen Antrieben für Moralität erläutert hatte. Nun fragt er erneut: Was taugt der durch die Revolutionsideale geweckte Enthusiasmus? Diesmal kommt er zu einer bemerkenswert optimistischen Antwort: »Die Revolution eines geistreichen Volkes (…) mag gelingen oder scheitern (…), diese Revolution findet doch in den Gemütern aller Zuschauer eine Teilnehmung dem Wunsche nach, die nahe an Enthusiasmus grenzt.« Dies könne doch keine andere als eine moralische Anlage zum Grunde haben. Für die Anthropologie sei festzustellen, »daß wahrer Enthusiasmus immer aufs Idealische und zwar rein Moralische geht.« Und dies sei ein Beweis für die Berechtigung, einen Fortschritt zum Besseren zu erhoffen.
    Auf Obama angewendet hieße das: Ganz gleich, was er praktisch erreicht – die von ihm erzeugte Begeisterung durch seine humanistischen Visionen ist ernst zunehmen und berechtigt uns zu hoffen. Also kommt es darauf an, was wir alle aus unserer Hoffnung machen. Darauf, dass wir zu ihrer Verwirklichung beitragen, anstatt an Obama zu delegieren, was unser aller Aufgabe ist, nämlich unsere wahren kulturellen Werte wieder in Kraft zu setzen. Das heißt aber, einen Kampf wieder aufzunehmen, den die Friedensbewegung, die grüne und später die globalisierungskritische Bewegung begonnen und weitergeführt haben.
    Allerdings sind diese Bewegungen zurzeit in keiner besonders guten Verfassung. Als die deutsche Friedensbewegung 2008 gegen die 20 an der Mosel gelagerten Nato-Atombomben protestierte, ich gehörte zu den Rednern, kamen gerade mal 3000 Leute. Niemand ging auf die Straße, als 2009 amerikanische Bomber, von deutschem Militär gerufen, über 140 Afghanen töteten. Fast unbeachtet blieben die Globalisierungskritiker, die zu dem jämmerlich gescheiterten Klima-Gipfel im Dezember 2009 nach Kopenhagen angereist waren. Die Stimmung glich einer Beerdigung, obwohl das Ereignis als letzte Gelegenheit zur Abwendung einer globalen Katastrophe angekündigt worden war. Was bedeutet diese Lähmung? Ist es nur ein Atemholen vor einem neuen Aufbruch oder schon Resignation?

Psychische Korruption und Missbrauch in der
Kirche
    Wenn wir einen moralischen Aufbruch wollen, aber die Kraft vermissen, ihn zu verwirklichen, müssen wir bei uns nach dem Grund suchen. Zunächst sieht es wie eine Ablenkung aus, als uns die Medien neuerdings über Wochen mit Meldungen über sexuellen Missbrauch und Misshandlungen in Atem halten. Anfangs sind es einzelne, schließlich hunderte von Opfern, die sich täglich offenbaren. Ein Bischof wird mit der Aufgabe betraut, vorzusortieren und für Bearbeitung zu sorgen. Jahre, selbst Jahrzehnte zurückliegende Vorfälle kommen ans Licht – und, wie inszeniert, in geballter Fülle. Die Opfer wollen sich aus ihrer schweigenden Bedrücktheit befreien, sich wieder aufrichten. Und die katholische Kirche soll zur Rede gestellt werden. Sie, die Scham und Ohnmacht der Betroffenen ausgenutzt hatte, um die peinlichen Delikte vor Aufsehen zu bewahren.
    Aber nun ist das anders. Nach den USA und Irland muss die Kirche unseres Landes Farbe bekennen. Die Opfer wollen sich selbst der Wahrheit stellen, aber auch die Institution herausfordern, die das Wertebewusstsein, das sie schützen sollte, ungeniert verraten hat. Nun ist die Kirche auf die Probe gestellt: Strengt sie sich an, durch Selbstkritik, Entschädigung der Opfer und gründliche Reformen verlorene Glaubwürdigkeit allmählich zurückzugewinnen? Begreift sie, dass sie den Tausenden von Bekennern einen Anstoß zu einer längst fälligen Selbstreinigung verdankt, oder hofft sie nur abwartend auf baldige Erlahmung des Aufbegehrens? Die Zahl der Bestrafungen wird sich durch Verjährung vieler Taten ohnehin in Grenzen
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